Corona-Leichtsinn

Den Sieg über Corona „versemmelt“?

Treffender kann man es nicht formulieren: „Der Sieg über Covid-19 scheint zum Greifen nah. Heute stehen die Chancen hervorragend, ihn kurz vor dem Ziel zu versemmeln.“ Geschrieben hat’s der Chefredakteur des Newsdienstes von t-online, Florian Harms.

Fast zwei Monate lang hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Deutschen eine Schocktherapie verpasst. Die war allerdings längst nicht so schlimm wie in anderen Ländern. Unbeirrt hatte Merkel die Bundesrepublik dermaßen gut durch die Corona-Krise manövriert, dass wir heute weit besser dastehen als andere Nationen – noch …

Jetzt ist der Kanzlerin die Kontrolle entglitten. Die verzweifelte Warnung vor „Lockerungsdiskussionsorgien“ wurde ihr von sprachlichen Tugendwächtern verübelt. Dabei war diese Warnung berechtigt, verhallte am Ende aber wirkungslos: Besonders orgiastisch drängelte Armin Laschet auf Lockerungen. Vielleicht wollte sich der Möchtegernkanzler als Volksbeglücker profilieren. Nach ihm allerdings verließen auch andere die Bund-Länder-Disziplin, die so viele Erfolge gegen Corona gezeitigt hatte: Stephan Weil, Michael Kretschmer, Reiner Haseloff, Manuela Schwesig, Daniel Günther und am Ende auch Markus Söder – sie überboten sich gegenseitig mit unkoordinierten Befreiungsaktionen für ihre Untertanen, ignorierten die Einheitsappelle der Kanzlerin und öffneten, was ihnen gerade in den Sinn kam und opportun schien: Autohäuser, Möbelhäuser, Sportanlagen, Strände, Campingplätze, Ferienwohnungen.

Warnungen führender Virologen wurden bedenkenlos in den Wind geschlagen.

Auf der jüngsten Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten konnte die düpierte Kanzlerin nur noch klein beigeben. Ab sofort übernehmen die Länder die Verantwortung für weitere Lockerungen. Damit ist der Flickenteppich die Handlungsvorlage für den Kampf gegen das Virus. Will man es positiv formulieren, könnte man sagen: Der Föderalismus hat gesiegt. Aber man sollte gleich hinzufügen: Gesiegt haben auch Unvernunft und Verantwortungslosigkeit, die Laschet und seine Kollegen demonstriert hatten.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung brachte es auf den Punkt: „Die Kakophonie der Politik, bei der sich Ministerpräsidenten mit Lockerungsversprechen überbieten, verstärkt den Eindruck, dass die Krise nun bewältigt sei.“ Die „Gefahren einer sehr viel schädlicheren zweiten oder gar dritten Ansteckungswelle“ würden von der Politik „leichtfertig“ ausgeblendet. Und von so einer zweiten oder dritten Welle „würde sich die deutsche Wirtschaft nicht so schnell erholen“.

Der Gipfel der Unvernunft aber ist der Beschluss, dass die Fußball-Bundesliga – wenn auch mit „Geisterspielen“ – die Saison zu Ende bringen darf. Ein „völlig falsches Signal“, wetterte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. „Damit wird die Krankheit verharmlost“.

In den Clubs der 1. und 2. Liga wurden bislang zehn Infizierte ausgemacht. Politik und Sportfunktionäre aber tun so, als hätten sie alles im Griff. Spieler, die Bedenken äußern oder gar Angst haben, werden niederkartätscht. Der Profi Birger Verstraete vom 1. FC Köln, in dessen Verein drei Personen positiv auf Covid-19 getestet worden waren, sagte ganz offen, „dass mir der Sinn nicht nach Fußball steht“. Anderen gehe es bestimmt genauso. Kurze Zeit später musste er auf offenbar auf Druck der Vereinsführung widerrufen. Alles ein Missverständnis.

Mit einem angeblich überzeugenden Hygiene-Konzept konnte die Deutsche Fußball Liga (DFL) die Politik für die Fortsetzung des Spielbetriebs gewinnen. Trotz des Videos von Hertha-Profi Salomon Kalou. Der hatte ganz arglos gefilmt, dass sich die Kicker in der Kabine einen Dreck um die Sicherheits-Auflagen scheren. Trotzdem darf ab Mitte oder Ende Mai gespielt werden. Ein Irrsinn gegen jede Logik, denn, so fragte auch SPD-Mann Lauterbach: „Wieso sollen die Spieler in der Kabine Abstände einhalten, wenn auf dem Spielfeld Körperkontakte erlaubt sind?“

Aber Regeln der Logik, der Vernunft und des geordneten Miteinander gelten für die Bundesliga ohnehin nicht mehr; eine Liga, in der der eine Spieler blattgold-belegte Steaks mampft, ein anderer mit einem hunderttausende Euro teuren Sportboliden durch die Gegend brettert und nicht weiß, dass er dafür einen Führerschein braucht, eine Liga, deren Top-Verdiener jährlich zweistellige Millionen-Gagen einstreichen, während die Vereinsführungen in der Corona-Krise vom Staat Kurzarbeitergeld für ihre kleinen Angestellten verlangen.

Ein Fan twitterte, er fände es gar nicht schlecht, wenn wegen Corona „die Bundesliga absaufen sollte“. Denn dann „könnte daraus ja wieder ehrlicher Fußball entstehen, ohne irrsinnige Gehälter, wahnwitzige Ablösen, Heere von geldgeilen Beratern, Kinderhandel, goldene Steaks verspeisende Spieler usw.“ Und der Zusammenschluss der deutschen Fanszenen befand: „Eine baldige Fortsetzung der Saison wäre blanker Hohn gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Der Profifußball ist längst krank genug und gehört weiterhin in Quarantäne.“

Bildquelle: Pixabay, Bild von Gerd Altmann(geralt), Pixabay License

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Christoph Lütgert war Rundfunk-Korrespondent beim NDR, hat für Panorama gearbeitet und war später Chefreporter Fernsehen beim Norddeutschen Rundfunk. Lütgert wurde wegen seiner sozialkritischen Reportagen mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.


'Den Sieg über Corona „versemmelt“?' hat einen Kommentar

  1. 8. Mai 2020 @ 18:22 Reich-Quistorp, Horst

    Sehr beeindruckender und richtiger Artikel. Ich ziehe meinen Hut!

    Antworten


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