Der 75. Jahrestag der Kapitulation deutscher Truppen in Berlin ist eigentlich ein Tag, da sollte die Erinnerung an den Sieg über den Nationalsozialismus das Thema sein, ein Gedenken, eine Feier zum Ende der braunen Diktatur Hitlers, die 65 Millionen Menschen in aller Welt das Leben gekostet hat. Die meisten Opfer, 25 Millionen Tote, hat die damalige Sowjetunion gebracht, zu der neben Russland u.a. auch die Ukraine und Weißrussland zählten. Ohne den brutalen Einsatz der Roten Armee im Krieg gegen Nazi-Deutschland und das ohne Rücksicht auf eigene Verluste, hätten die Alliierten den Krieg im Westen nicht so schnell zu Ende gebracht, die Verluste wären noch höher gewesen. Dass die erwähnten Länder inzwischen selbstständig sind und die Ukraine nicht gut auf Moskau zu sprechen ist wegen der Krim, ist ein anderes Thema. Wer aber diesen 75. Jahrestag feiern will, gedenken will all der Opfer, die sie gebracht haben, wird nicht darum herumkommen, auch den russischen Botschafter zu einer solchen Gedenkfeier einzuladen. Dies hat der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, getan.
Müller hatte für diesen Samstag der Kapitulation Deutschlands mit Vertretern Russlands, der Ukraine und Weißrusslands dort gedenken wollen, wo General Helmuth Weidling einst seine Unterschrift unter den Befehl gesetzt hatte: im Haus am Tempelhofer Schulenburgring 2. Weidling hatte nach dem Selbstmord Hitlers in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 den Befehl zum Einstellen der Kampfhandlungen erteilt und Berlin den Sowjets übergeben. Dort -am Schulenburgring-befand sich früher der Kommandostab der 8. Sowjetischen Gardearmee. Der ukraine Botschafter Andrij Melnik, lese ich im „Checkpoint“ von Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt, „sagte irritiert ab.“ Und weiter heißt es dazu aus dem Mund des Ukrainers: „Nicht einmal im schlimmsten Alptraum könnte ich mir das vorstellen, Kränze niederzulegen an der Seite eines Vertreters des Landes, das seit über sechs Jahren zynisch einen blutigen Krieg in der Ostukraine führt.“ Ein gemeinsames Gedenken? „Undenkbar“. Und Maroldt zitiert dann, was Melnik dem „Tagesspiegel“ gesagt habe: Es sei „schade, dass der Regierende Bürgermeister diese haarsträubenden Tatsachen anscheinend übersieht.“ Und er fährt fort: „Wir Ukrainer würden uns mehr Fingerspitzengefühl und Empathie wünschen.“
Das kann der Herr Melnik sagen, es ist seine und die Meinung der Regierung in Kiew, historisch sieht das etwas anders aus. Den Krieg gegen Hitlers Nazi-Deutschland, das ganz Europa jahrelang terrorisierte, das die Sowjetunion im Sommer 1941 überfallen, einen Vernichtungskrieg geführt hatte und Russen und andere versklaven wollte, diesen Krieg haben die Alliierten zusammen geführt, Engländer, die Franzosen, die Amerikaner und vor allem die Rote Armee unter Marschall Schukow, der erst Hitlers Angriff auf Moskau gestoppt, dann die Schlacht in Stalingrad gegen die 6. deutsche Armee unter Generalfeldmarschall Paulus gewonnen und damit dem Zweiten Weltkrieg die entscheidende Wende gegeben hatte, dieser Schukow und seine Truppen haben am Ende Berlin in einem tagelangen Häuserkampf eingenommen und Schukow war dabei, als die Kapitulationsurkunde am 8./9. Mai in Karlshorst unterzeichnet wurde.
Vielleicht hätte Müller gänzlich auf eine Einladung verzichten sollen, wenn er aber einlädt, dann geht das nicht ohne Russland. Es ist ohnehin ein Fehler, Russland mit Sanktionen zu belegen. Sanktionen haben noch nie was gebracht. Ganz nebenbei wird es keine Lösung in Syrien geben ohne Russland. Es war und bleibt ein Fehler, Russland isolieren zu wollen. Ich will noch einmal an Aussagen des früheren deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher erinnern, der kurz vor seinem Tod die Politiker des Westens aufforderte, auf Putin zuzugehen und ihm die Hand zu reichen. Müller eine „unsensible Einladung“ vorzuwerfen, wie es der Tagesspiegel tat, ist die eine Sache, historisch ist der Vorwurf glatt daneben. Er vergisst Russlands Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung, er unterschlägt den entscheidenden Beitrag des damaligen sowjetischen KP-Generalsekretärs und Staatspräsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, dessen Wunsch es war, in einem europäischen Haus ein Zimmer belegen zu können.
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