Rente

Die Reform der Alterssicherung

Angeblich hat sich die folgende Geschichte im Hungerwinter 1945-1946 zugetragen. Da saßen die Hochzeiter und deren Gäste – 14 an der Zahl insgesamt – um den Tisch. Es sollte Schnitzel geben für die 14 dünnen Menschen, die alle schrecklichen Kohldampf schoben.  Alle hatten ein Schnitzel auf den Teller gelegt bekommen, ein Schnitzel blieb übrig. Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass die Pointe unschön ist.

Plötzlich geht das Licht aus, ein markerschütternder Schrei ertönt. Das Licht geht wieder an. Auf dem Tisch liegt die Schnitzelplatte, auf dem 15. Schnitzel liegt eine Hand und in der Hand stecken 11 Gabeln. Ein Gast hatte sich die Nase geputzt, als das Licht ausging, ein anderer sich eine Eckstein angezündet.

Wie gesagt unschön. Die Pointe lässt kein Lachen zu. Es geht bei der Geschichte um Knappheit, um Hunger, um Teilen, um egoistisch sein. Eine klassische Konstellation für die Gerechtigkeit. Es gibt freilich unterschiedliche „Gerechtigkeiten“: Einmal die persönlich-private, die im Fall der Schnitzelgeschichte  sagen würde: Die Gabel zu benutzen mag nicht fair sein, aber….  was willst du machen. So ist es eben. Soll die Gerechtigkeit einen institutionellen Charakter haben, einen Charakter, der Recht beinhaltet, sieht es anders aus. Gerechtigkeit bedeutet dann immer, den einen etwas offen zu nehmen, um es anderen geben zu können. Und zwar in einem rechtlich nicht anstößigen Verfahren, das sich förmlich überprüfen lässt.  Wer diese Unterscheidung auf die Rente anwenden will, der sollte die Erfahrung bemühen.

Vor bald einem halben Jahrhundert, nämlich 1972, hatte die damalige sozial-liberale Bundesregierung (es würde noch sieben Jahre dauern, bis Christian Lindner auf die Welt kam) eine Regelung ins Gesetzbuch gebracht, wonach Rentenanwartschaften künstlich aufgewertet würden, sofern sie nach 25 Beitragsjahren unterhalb von 0,75 Entgeltpunkten pro Jahr lägen. Entgeltpunkte gab es damals als Begriff noch nicht, man sprach von Werteinheiten. Das hieß damals: Wer weniger als 18,75 Werteinheiten hatte (25 X 0.75), dessen Rente wurde aufgewertet. Der Gesetzgeber machte es möglich, dass den einen etwas genommen wurde, um es anderen zu geben. Die Durchschnittsrente West lag  damals, 1972, übrigens bei 370 D-Mark. Ein  Pfund Butter kostete damals knappe 8 Mark 20. Die erwähnte Regelung sollte und hat vor allem Frauen geholfen, denn damals gab es noch hunderttausendfach Minilöhne auf dem Land und sogenannte „Leichtlohngruppen“ für Frauen in der Industrie. Annemarie Renger, die vor 100 Jahren geboren wurde, hat sich besonders für die Abschaffung der Leichtlohngruppen eingesetzt. Anfang der neunziger Jahre lief die Regelung faktisch aus. Was jetzt, angestoßen vom Arbeitsminister Heil, diskutiert wird, ist also in der Sozialgeschichte nichts Neues.

Heute geht es um etwas anderes. In diesem Jahr geht der Jahrgang 1954 in die Altersrente (65 Jahre plus acht Monate).  Es ist der Jahrgang, der im Protestjahr 1968 „Azubi wurde“ und der Ende der siebziger Jahre – 25 Jahre alt geworden – die Arbeitslosigkeit zu spüren bekam, denn die sprang über die Millionengrenze, um bis heute nie wieder auf diese Größe zurückzufallen. Der 54er Jahrgang, der im laufenden Jahr seinen Bescheid erhält, war 36, als die DDR- Wirtschaft zusammenbrach und aus dem Osten eine Landschaft der Arbeitslosigkeit wurde.  Das bedeutet.

Dieser Jahrgang mit seinen Lebensarbeits- und Ausfallzeiten trägt in Ost und West nun  am längsten an den wirtschaftlichen Krisen, Beschäftigungseinbrüchen und am ostdeutschen Kombinat- Kollaps. Viele Millionen Arbeitsstunden sind weggefallen, die sonst mit Rentenbeiträgen belegt worden wären. Oft ist in diesem Zusammenhang die Behauptung zu hören, die deutsche Alterssicherung führe zu Altersarmut und Elend (auch Uwe-Karsten Heye im Blog der Republik). Diese Behauptung ist nachweislich falsch. Die Rente folgt den während eines Arbeitslebens geleisteten Beiträgen. Die  wiederum hängen an Löhnen und Gehältern. Steigen die stärker, steigen auch die Beiträge. Wird es eng, springen in Deutschland die Steuerzahler ein: Zwischen 2000 und 2018 floss weit mehr als eine Billion Euro an Steuergeld in die Rentenversicherung.

Kritik entzündet sich auch an den Verteilungswirkungen in der  Rentenversicherung. Die Spannweite der Leistungen beträgt 830 € (wer weniger Rente erhält, sollte einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter prüfen lassen) am einen und rund 2750 € Höchstrente am anderen Ende. Dazwischen liegen Durchschnittsrenten zwischen 700 € Rente im Monat und 1000 Euro sowie die Standardrente (45 Beitragsjahre mit durchschnittlichen Rentenbeiträgen durchgehend belegt). Die  liegt nach Abzug von Krankenversicherungs- und Pflegebeitrag bei 1285 (West) und bei 1231 € (Ost).

Die Grundsicherung wird demnach nicht abgeschafft, sondern sie wird durch Heils „Respektrente“ ergänzt. Es werden Zahlbeträge bis zu 950 € für Altenteiler „generiert“, die 35 Jahre gearbeitet haben.

Offen ist die Frage, ob die Frauen und Männer, die 1000 oder 1050 oder 1100 Euro von der Rentenversicherung überwiesen bekommen, akzeptieren, wenn diejenigen, die weniger haben, mehr bekommen. Und zweitens ist die Trennung derjenigen mit 35 Versicherungsjahren von denen, die etwas weniger vorweisen können, problematisch.

Einen Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung bisherigen Stils halte ich hingegen nicht für entscheidend. Denn selbstverständlich kann geprüft werden, welches Familieneinkommen zusammenkommt. Und selbstverständlich lässt sich eine Kappungsgrenze einführen.

Bleibt die Frage, ob das deutsche Rentensystem so etwas wie die Respektrente aushält. Eine Altersgrundversorgung   wie in der Schweiz die AHV ohne Beitragsbemessungsgrenze aber mit einem Deckel gegen äquivalent steigende Renten würde es leichter machen. Aber die haben wir in Deutschland nicht. Der Weg zur Respektrente ist nicht einfach – wir werden uns anstrengen müssen. Markerschütternde Schreie sind freilich nicht zu befürchten.

Bildquelle: Flickr, Christoph Scholz, CC BY-SA 2.0

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Über  

Redakteur 1972 und bis 89 in wechselnden Redakteursaufgaben. 90 bis 99 wiss. Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion, Büroleiter Dreßler, 2000 Sprecher Bundesarbeitsministerium, dann des Bundesgesundheitsministeriums, stellv. Regierungssprecher; heute: Publizist, Krimiautor, Lese-Pate.


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