Krise

Es ist ein Elend mit der SPD – Verfahren um die neue Parteiführung ist verfahren

Hans-Jochen Vogel, der jetzt im 94. Lebensjahr ist, verfolgt „trotz meines Alters“ die Berichterstattung und Diskussion in den Medien ebenso wie die politischen Entwicklungen und Entscheidungen noch immer mit Aufmerksamkeit. Und wer Hans-Jochen Vogel erlebt hat in den 70er und 80er Jahren, als er Bundesminister in den Kabinetten der SPD-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt war oder später, als er der Partei als Vorsitzender und Fraktionschef diente, der kann sich vorstellen, wie dieser große alte Sozialdemokrat unter dem gegenwärtigen Zustand der SPD leidet. Er, der gern Verantwortung übernahm, hatte Pflichtbewusstsein, lebte Führung vor, war  Vorbild, der oft genug der erste bei der Arbeit war und andere mitzog, der Disziplin, Genauigkeit, Pünktlichkeit zeigte, muss jetzt beobachten, wie die Nach-Nachfolger sich vor der Verantwortung drücken. Drückten, muss ich einschränken, weil ich gerade bei Spiegel online lese, dass Olaf Scholz, der Vizekanzler, bereit sei, anzutreten um den Vorsitz der Partei. Andererseits ist hierbei anzumerken, dass Scholz in der SPD längst nicht mehr gut gelitten ist.

Wochen lang meldete sich keiner aus der engeren Führung, keiner der Ministerinnen und Minister, um der zurückgetretenen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles zu folgen. Jetzt hat auch noch Franziska Giffey abgesagt- wohl aus Sorge um das laufende Plagiatsverfahren ihrer Doktorarbeit. Klärung soll es von der Universität zu Berlin erst in Wochen geben- zu spät für die Berlinerin Giffey, die alle Aussichten hatte und auf deren Schultern so viele Hoffnungen ruhten. Sie ist kompetent, beliebt, sie kann was, sie stellt was dar. Ihr hätten viele zugetraut, den alten Tanker SPD wieder flott zu machen.

Erst das Land, dann die Partei

Ich habe Hans-Jochen Vogel als Partei- und Fraktionschef in Bonn erlebt, ich habe ihn oberflächlich kennengelernt, als er OB in München war und ich zu der Zeit dort studierte. Der „Doktor Vogel“ genoß breite Sympathien in der „Hauptstadt mit Herz“, für die er sich international einsetzte, um die Olympischen Spiele in die bayerische Metropole zu holen. Wer Vogel kennt, weiß, wenn er was macht, macht er es mit vollem Engagement, er schont sich nicht, er hat nie Rücksicht auf seine Gesundheit genommen. Arbeiten von der Früh bis  spät in die Nacht- das war Hans-Jochen Vogel. Unvorstellbar, dass er sich verweigert hätte, wenn seine Partei ihn gebraucht hätte. Gar nicht dran zu denken, dass er sich geziert hätte wie all die heutigen Ministerinnen und Minister mit SPD-Parteibuch, er hätte Verantwortung übernommen. Ja, selbstverständlich. Heute wird taktiert, überlegt, gewartet, jeder schaut auf seine Chance, sehr egoistisch, nicht auf die Erfordernisse der SPD und die des Landes. Erst das Land, dann die Partei, so hatte es Gerhard Schröder mal gesagt, der Satz könnte auch von Vogel stammen.

Dass sich Stephan Weil, der erfolgreiche Ministerpräsident von Niedersachsen, dass sich Manuela Schwesig, Regierungschefin in Mecklenburg-Vorpommern weigern, die Führung der gebeutelten SPD zu übernehmen, für Vogel wäre das unvorstellbar. Und so gelangten Bewerber-Paare auf die Bühne, die den politischen Gegner geradezu  dazu einladen, das ganze, viel zu lange und viel zu umständliche Verfahren zur Ermittlung eines neuen Parteivorsitzenden mit Hohn und Spott zu begleiten. So mußten es gestern Gesine Schwan, die anerkannte Hochschul-Lehrerin, und Ralf Stegner, der Sozialdemokrat aus Schleswig-Holstein, erleben. Gewiss, mit einer Kandidatur von Stegner  hatte kaum jemand gerechnet, er ist nicht der Sieger-Typ, den die SPD jetzt bräuchte, nicht der Strahlemann, sondern eher einer, der schlecht gelaunt daher kommt, miesepetrich wirkt, aber Vorsicht: Stegner kennt sich aus in der Politik, er wäre ein guter Mann für den Hintergrund, die zweite Reihe. Manches Vorurteil gegen Ralf Stegner ist falsch, aber so ist das nunmal in der Bilder-Welt.

Fußstapfen von Willy Brandt

Wieso zögern namhafte Sozialdemokraten bei dieser Frage? Willy Brandt war lange Jahre Vorsitzender der ältesten deutschen Partei. Wenn das kein Ansporn ist, in dessen Fußstapfen zu treten? Oder nehmen wir Hans-Jochen Vogel, der beide Führungsämter, der Partei wie der Fraktion, innehatte. Der antrat, als Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum die Kanzlerschaft an Helmut Kohl verlor. Damals im Herbst und im Frühjahr, als die Neuwahl stattfand, ließ sich einer wie Vogel nicht lange bitten, als Kanzlerkandidat seiner Partei in den Ring zu steigen gegen den neuen Regierunschef der CDU, Helmut Kohl. Aussichtslos war das Rennen, aber einer musste es ja tun. Vogel tat es und verlor, achtbar, keine Frage. Jahre früher suchte die SPD einen Regierenden Bürgermeister in Berlin, in einer Situation, in der früh klar war, dass der SPD-Kandidat gegen den CDU-Herausforderer Richard von Weizsäcker keine Chance hatte. Die SPD in der geteilten Stadt hatte abgewirtschaftet, Skandale hatten ihren guten alten Ruf zunichte gemacht. Vogel ging nach Berlin und verlor die Wahl gegen Weizsäcker, der später Bundespräsident wurde.

Und ja, Hans-Jochen Vogel übernahm die Führung von Partei und Fraktion. Man frage seine damaligen Stellvertreter in der Fraktionsführung. Vogel hatte ein so genanntes Dezernatentum eingeführt, jeder der Vize war für einen wichtigen Bereich zuständig. Vogel erwartete das ständige Vorbereitsein auf mögliche Wechsel in der Bundeshauptstadt Bonn. Die Opposition war damals wirklich die Regierung im Wartestand. Hans-Jochen Vogel hätte jeden Tag übernehmen können, nur Helmut Kohl tat ihm diesen Gefallen nicht. Wer ihn erlebt bei den Frühstücken in der Landesvertretung der Hansestadt Hamburg, immer Dienstags in Sitzungswochen, Beginn um acht Uhr. Pünktlich wurden die Seitenflügel geschlossen, wer zu spät kam, der musste durch die mittlere Tür in den Frühstückssaal und lief geradezu auf den Gastgeber- Hans-Jochen Vogel. Sein Blick war in solchen Momenten alles andere als fröhlich.

Jetzt hat sich ein Duo gemeldet, dem man ernste Absichten zusprechen kann: Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius(59) und Petra Köpping. Pistorius war erfolgreicher Oberbürgermeister von Osnabrück, er kennt Integration und die Probleme, er ist anerkannt als Innenminister. Er könnte die offene Flanke der SPD schließen. Recht und Ordnung, innere Sicherheit, das sind Bereiche, die nicht so beliebt sind in der Partei. Dabei sollte man sich an Gerhard Schröder und Otto Schily erinnern. Schily, der von den Grünen kam, ließ sich vom politischen Gegner das weite Feld der Inneren Sicherheit nicht abnehmen. Pistorius Kandidatur könnte zugleich ein Hinweis sein, dass Stephan Weil endgültig auf eine Kandidatur für den SPD-Vorsitz verzichtet. Petra Köpping (61)ist Integrationsministerin in Sachsen.  Zuvor war sie Landrätin im Leipziger Land. Sie steht für den Osten, wo bald in drei Bundesländern gewählt wird.  Am Sonntag will sich das Duo erklären und damit auch die dazu gehörende Kampagne beginnen.

Schwerste Krise

Die Lage der SPD ist schwierig, die Krise der Partei hatte Hans-Jochen Vogel vor einigen Wochen in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ als „schwerste der Nachkriegszeit“ bezeichnet. Vogel hatte für die Doppelspitze mit einer Frau und einem Mann geworben. Und mit einer solchen  Führung auch die Erwartung verknüpft, die alten Konflikte zu beenden. Die Öffentlichkeit habe zuletzt die SPD nur mehr wahrgenommen, dass sie untereinander streite, als dass sie mit den politischen Mitbewerbern die Auseinandersetzung führe. Als Vorbild nannte Vogel die Grünen. Das neue Duo müsse miteinander harmonieren, kooperieren und in gleicher Weise präsent sein.

Immer wieder aufstehen und weiter kämpfen, das gehörte schon in den Bonner Jahren zu Vogels Motto. Er lehnt sich dabei an Herbert Wehner an, seinen Amtsvorgänger, auf dessen Zettel stand: „Trotz allem weiterarbeiten und nicht verzweifeln“. Vogel trägt diesen Zettel Wehners seit Jahren mit sich, noch heute, wie er der SZ in einem Gespräch erklärte. Wehner war für Vogel ein Vorbild, er wollte wie dieser immer den Karren ziehen. Er leidet unter der Lage der SPD, wie er betonte. „Es tut weh“, räumte er mit Blick auf die Entwicklung der Sozialdemokraten in anderen Ländern Europas ein, das Abschneiden der SPD bei den bayerischen Landtagswahlen hat ihn geschmerzt, die aktuellen Umfragewerte für seine SPD machen ihm Sorgen.

Warum man die SPD noch wählen solle, wurde er vom Bayerischen Rundfunk befragt. „Die soll man wählen, weil sie eine Geschichte hat, wie keine andere Partei. Weil es keine Partei gegeben hat, die die Demokratie so leidenschaftlich verteidigt hat wie die SPD. Weil es einen Otto Wels gab mit seiner berühmten Rede, als alle anderen zugestimmt haben, Hitlers Antrag, und wir allein diejenigen waren, die nein gesagt haben. Keine andere Partei hat eine solche Geschichte.“ So Hans-Jochen Vogel zum Ermächtigungsgesetz 1933, das den Anfang vom Ende der Weimarer Republik bedeutete.

Aufstehen und kämpfen. Das erwartet einer wie Vogel von seinen Nachfolgern.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Gerd Altmann, Pixabay License

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arbeitete als stellvertretender Chefredakteur und Berliner Chefkorrespondent für die WAZ. 2009 gründete Pieper den Blog "Wir in NRW". Heute ist er Chefredakteur des Blogs der Republik.


'Es ist ein Elend mit der SPD – Verfahren um die neue Parteiführung ist verfahren' hat einen Kommentar

  1. 16. August 2019 @ 19:25 Kai Ruhsert

    „Erst das Land, dann die Partei, so hatte es Gerhard Schröder mal gesagt, der Satz könnte auch von Vogel stammen.“
    Wer ausgerechnet die Person zitiert, welche die Misere der SPD hauptsächlich zu verantworten hat, hat nichts, aber auch gar nichts verstanden. Die SPD geht nicht daran zugrunde, dass es diesem oder jenem Politiker an Pflichtbewusstsein fehlt – sondern weil sie seit Schröder unbeirrbar Politik gegen die Interessen ihrer Stammwähler macht.
    Die Annahme, ein Hoffnungsträger könne es ohne einen Bruch mit der Agenda 2010 schon irgendwie richten, zeugt davon, nicht nur die Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor für dumm zu halten.

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