Es geschah vor 75 Jahren: Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, zwar marschierten die Amerikaner und Briten weiter und weiter ins Deutsche Reich vor, die Rote Armee stand vor Berlin, am 6. März 1945 war Köln von den Amerikanern eingenommen worden, am 10. April desselben Jahres hatten die Amerikaner Hannover von den Nazis befreit, am 18. April aber, einen Tag vor dem Einmarsch der Franzosen in Tübingen gab der dortige Gauleiter Murr den Befehl, die Universitätsstadt bis zum letzten Mann zu verteidigen. Carlo Schmid, einer der großen Sozialdemokraten in den kommenden Jahren, konnte nur kopfschüttelnd feststellen: „Die merken nichts.“ Also ging er in seinen Garten und steckte Kartoffeln. So nachzulesen in einer Biografie von Petra Weber über den großen Politiker, Humanisten, „die lebendige Verkörperung von Geist und Macht“. Carlo Schmid hoffte, sie mit seinen Kindern ernten zu können. Zur selben Zeit, am 19. April, 1945, also neun Tage nach der Befreiung Hannovers, berief Kurt Schumacher in der späteren Landeshauptstadt von Niedersachsen ein vorbereitetes Treffen zur Wiedergründung der SPD ein. Am 6. Mai, zwei Tage vor dem offiziellen Kriegsende, entstand der erste SPD-Ortsverein. Das „Büro Schumacher“ wurde vorübergehend zur ersten Parteizentrale.Der politische Neuanfang Deutschlands begann vor der Kapitulation des Reichs. (Heinrich August Winkler)
Ausgerechnet Kurt Schumacher, den die Nazis zehn Jahre in Konzentrationslagern halbtot geschlagen und gefoltert hatten, dass sich der Mann kaum noch aufrecht und allein bewegen konnte. Man hatte ihn in Gefängnissen gefolgert und u.a. im KZ Dachau geschunden, im März 1943 war sein Martyrium vorerst zu Ende, aber nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wird Schumacher erneut verhaftet. Und nach Wochen freigelassen, unter Auflagen. Er kam nach Hannover.
Schumacher hatte schon im Reichstag für die SPD gearbeitet, dort hatte Parteichef Otto Wels in seiner berühmt gewordenen Rede in der Kroll-Oper das Nein der SPD zum Ermächtigungsgesetz Hitlers begründet: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ So geschehen am 23. März 1933, wenige Wochen zuvor war Adolf Hitler am 30. Januar deutscher Reichskanzler geworden, Gewaltmaßnahmen und Terror vor allem gegen die Arbeiterbewegung begannen unmittelbar danach.An der Rede hatte Schumacher mitgewirkt, er hatte sich schon einen Namen gemacht durch seine Kritik an der NSDAP, wobei auch er Hitler anfangs unterschätzte.
Bewaffnete SA und SS im Saal
Bewaffnete SA und SS saßen in dem Saal, davon ließen sich die 94 SPD-Abgeordneten und ihr Vorsitzender Otto Wels nicht von ihrer Ablehnung zu Hitler und dem Ermächtigungsgesetz abbringen. Alle anderen Abgeordneten stimmten mit Ja. Otto Wels sagte dann noch: „Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. ..Wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung…Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“
Danach setzte die Jagd auf Sozialdemokraten ein, ein Teil des SPD-Vorstands ging ins Exil, die Flucht ins Ausland, vor allem nach London, war oft der einzige Weg, das Leben zu retten. Viele andere wurden verfolgt, in Konzentrationslager gesperrt und wie zum Beispiel Julius Leber am 5. Januar 1945 hingerichtet. Der Sozialdemokrat war für seine Überzeugung gestorben.
Das „Büro Schumacher“ war so etwas wie der inoffzielle Parteivorstand der SPD. Allerdings waren Parteien in der britischen Zone, in der Hannover lag, verboten. Einer wie Willy Brandt gehörte noch nicht dazu. Er war damals noch in Norwegen. Er traf sich mit sozialistischen Flüchtlingen und Gewerkschaftern aus Dänemark und Norwegen und anderen Ländern Europas am Abend des 1. Mai 1945 und wollte gerade eine Veranstaltung für beendet erklären, da wurde ihm eine Agenturmeldung übergeben. Brandt wandt sich an die Zuhörer: „Liebe Freunde, jetzt kann es sich nur noch um Tage handeln. Hitler hat sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen.“ So hat es Willy Brandt in seinem Buch „Links und Frei“ aufgeschrieben. Weiter heißt es in dem Buch: „Bei meinen ersten Kontakten mit Schumacher und Ollenhauer gewann ich nicht den Eindruck, dass meine rasche Mitarbeit gefragt war.“ Selbst einer wie Fritz Heine, der wie Ollenhauer aus London zurück war in Deutschland, meinte, Brandt und Rix Löwenthal „könnten sich zunächst draußen nützlich machen.“ Es kam dann anders, wie man weiß.
50000 Kriegsgefangene
So war die Lage. Hannover lag im übrigen wie andere Städte auch-Köln, Hamburg, München, Berlin, Lübeck, Essen- in Schutt und Asche, von einst 470000 Menschen lebten noch 215000 in der Stadt an der Leine, in der Überzahl Frauen, die Männer waren im Krieg gefallen oder jetzt in Kriegsgefangenschaft. 90 Prozent des alten Hannover ist zerstört. Ein alter Sozialdemokrat, Gustav Bratke(66), wurde von den Briten als OB eingesetzt, er sollte den Aufbau organisieren, das Wichtigste war die Ernährung, es fehlte an allen Ecken und Kanten, es gab kaum Wohnungen, es fehlte an Jobs, an Heizungen. Ein Problem: die Entnazifizierung auch hier, von 9600 Beschäftigten in der Verwaltung mussten über 1200 gehen. Anderes, was an Hitler erinnerte, wie die Adold-Hitler-Straßen-Namen, war schon entfernt worden. In der zerstören Stadt mußten auch 50000 Kriegsgefangene versorgt werden. Das Rathaus aber war gerettet worden, die Nazis hatten es sprengen wollen.
Das erste SPD-Treffen fand am 19. April 1945 statt, an ihm nahmen 130 Sozialdemokraten teil. Getagt wurde im Sitzungssaal des Polizeipräsidiums, man wird froh gewesen sein, überhaupt einen einigermaßen intakten Raum gefunden zu haben. Dort wurde ein provisorischer Parteivorstand gewählt. Die ersten Parteibücher wurden ausgegeben, illegal. Erst im Sommer ließ die Besatzungsmacht die SPD als Partei zu, worauf Schumacher am 20. August 1945 offiziell die Neugründung der SPD beantragte, gut 12 Jahre nach ihrem Verbot durch die Nazis. Im Oktober trafen sich SPD-Funktionäre in Wennigsen zur Neugründung der Partei, Schumacher wurde zum politischen Beauftragten gewählt. Der erste Nachkriegsparteitag fand am 10. Mai 1946 wiederum in Hannover statt. Kurt Schumacher wurde erster SPD-Vorsitzender in den drei westlichen Besatzungszonen und zum politischen Hauptgegner von Konrad Adenauer, den er später mal in seiner Erregung einen „Kanzler der Alliierten“ nannte. Schumacher starb 1952, sein Nachfolger wurde Erich Ollenhauer, der später von Willy Brandt beerbt wurde.
Hannover war 73 Jahre von einem SPD-Oberbürgermeister regiert worden, jetzt stellen die Grünen den OB. Die Bundes-SPD verlegte 1951 ihre Parteizentrale von Hannover nach Bonn, der neuen Bundeshauptstadt, wo sie unter dem Namen „Baracke“ Berühmtheit erlangte. Seit ein paar Jahren hat die SPD ihren Sitz in der Wilhelmstrasse in Berlin.
Quellen: NDR: Als in Hannover die SPD wieder aufgebaut wurde.
Helga Grebing / Susanne Miller / Klaus Wettig: Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht. 150 Jahre SPD. Ein Lesestück. Dietz-Verlag 2013.
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Beck-Verlag 2009.
Willy Brandt. Links und Frei. Hoffmann und Campe 2012.
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