Es kann ja sein, dass manche SPD-Mitglieder einfach abwinken, wenn sie nur den Namen Sigmar Gabriel hören. Der ehemalige Parteichef der Sozialdemokraten hatte sich in der Vergangenheit des öfteren unbeliebt gemacht, weil er allzu gern den Poltergeist gibt, vor allem, wenn ihm jemand auf die Nerven geht. Seinen Kritikern sei gesagt, Gabriel mag unbequem sein, die falschen Berater haben, aber der amtierende Außenminister und immer noch einer der wenigen wirklichen führenden Köpfe der Partei hat wieder einmal Recht mit dem, was er im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erklärt und gefordert hat. Die SPD, so Gabriel, habe sich zu weit von ihren klassischen Wählerschichten entfernt. Wörtlich schreibt der SPD-Politiker: „Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit.“
Bevor sich die üblichen Verdächtigen auf Gabriel stürzen, um ihn zu beschimpfen, sollten sie einen Moment innehalten. Die SPD war mal die Partei der Arbeit und der Arbeiter, sie war d e r Anwalt der kleinen Leute, letzteres meine ich überhaupt nicht negativ. Denn es war die SPD, die vor Jahrzehnten unter der Führung von Willy Brandt und anderen Genossen dafür sorgte, dass Kindern von Arbeitnehmern der Weg zum Abitur und zum Studium ermöglicht wurde, dass Töchter und Söhne aus bildungsfernen Schichten sich weiterbilden konnten. Übrigens: Der wie Gabriel immer wieder gern kritisierte Gerhard Schröder kam von ganz unten, machte das Abitur nach, studierte Jura, wurde Anwalt, dann SPD-Landtagsabgeordneter, dann Mitglied des Bundestages, Ministerpräsident von Niedersachsen, Bundeskanzler. Schröder ist immer noch Mitglied der SPD, er hat ihr manches zu verdanken, aber das gilt auch umgekehrt.
Kurs und Klientel aus den Augen verloren
Zurück zu Gabriel. Die SPD hat ihren Kurs und dabei ihre einstige Klientel, die sich auf sie verlassen hatte, teilweise aus den Augen verloren. Und wundert sich, dass ihre Stammwähler andere Wege gingen. Die Vergrünung der SPD begann schon vor Jahrzehnten. Ich erinnere mich noch ziemlich gut, als die SPD im Ruhrgebiet- einst ihre Hochburg- in den 70er Jahren ihre Schwerpunkte veränderte, man hatte den Umweltschutz entdeckt und glaubte, die Grünen auf dieser Spur überholen zu müssen. Manche Diskussion über den Bau und Ausbau von Autobahnen wurde von diesen Fragen derart überlagert, dass ganze Projekte scheiterten. Der Ausbau der A 52 in Essen ist so ein Punkt, auch wenn das manche Zeitgenossen immer noch nicht wahrhaben wollen. Die Straße hätte längst tiefer gelegt und/oder überdacht werden können- zum Wohle der Anlieger, die unter dem Straßenlärm leiden. Ich könnte auch Beispiele aus dem Bochumer Raum erwähnen.
Der andere Punkt ist die innere Sicherheit, den zum Beispiel die letzte SPD-geführte Landesregierung unter Hannelore Kraft erheblich vernachlässigt hatte und prompt abgewählt wurde. In der Staatskanzlei hat jetzt Armin Laschet Platz genommen. Man tat damals so, als hätten SPD-Wählerinnen und -Wähler keine Probleme mit der wachsenden Kriminalität im Lande, damit, dass NRW auf diesem heiklen Sektor einen traurigen Spitzenwert unter den Bundesländern eingenommen hatte.
Gabriel spricht dann noch die Sache mit der Heimat und der Leitkultur an. Auch hier lohnt es sich, den Text zu lesen und darüber nachzudenken, ehe man auf Gabriel eindreschen will. Gabriel will sich gewiss nicht den Ideen der Union anschließen, aber dass es auch in der Wählerschaft und der Sympathisantenschar der SPD Wünsche nach mehr Orientierung gibt in einer Welt, die immer unverbindlicher und unüberschaubarer wird, diesem Gedanken sollte man ein paar Minuten des Nachdenkens widmen.
Man braucht kein Godesberger Programm
Nein, nein, die SPD braucht nicht wie Ende der 50er Jahre ein Godesberger Programm, als die Genossen unter dem Eindruck pausenloser Wahlniederlagen gegen Konrad Adenauers CDU den Klassenkampf aufgaben und sich zur Volkspartei mauserten. Mit dabei waren Leute wie Herbert Wehner, der einstige Kommunist, der in der bürgerlich gewordenen SPD eine wesentliche Rolle spielte, Willi Eichel war dabei, Fritz Erler, Willy Brandt, Carlo Schmidt, Alfred Nau und Erich Ollenhauer. Liberal wurde die SPD statt klassenkämpferisch, man legte Marx ins Archiv und schloss sich den Ideen der sozialen Marktwirtschaft an. Man warf schlicht und einfach ideologischen Ballast über Bord. Sozialpartnerschaft hieß das neue Stichwort, die SPD wollte künftig nicht mehr nur Arbeiterpartei sein, sie wollte die Angestellten für sich gewinnen, die Beamten, die Handwerker und die Intellektuellen. Man wollte Industrien nicht mehr verstaatlichen, Arbeit und Kapital wurden zwei verschiedene und unverzichtbare Kräfte der neuen SPD-Welt.
Karl Schillers Formel „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig“ ging in das Programm ein. Es hieß aber auch, innerhalb der Betriebe müsse es eine wirkliche Mitbestimmung geben. Der Vollständigkeit halber sei noch hinzugefügt, dass die SPD sich zur Bundeswehr und zur Nato bekannte. Das Programm war ein weiter, ganz weiter Weg.
Ein früher einflussreicher Sozialdemokrat, der die erwähnten Entwicklungen alle miterlebt hat, der im Bundestag saß, der in einer großen Koalition mitregiert hat, sieht die Entwicklung seiner Partei mit ziemlicher Sorge, weil nicht nur seiner Meinung nach eine unverzichtbare programmatische Neuaufstellung der SPD ohne „eine ehrliche Betrachtung der Fakten“ nicht möglich sei. Den Kritikern -oder soll man besser Gegnern sagen?- von Gerhard Schröders Agenda 2010 sei empfohlen, die Reden von Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel auf den damaligen Parteitagen nachzulesen. Beide Altvorderen der Partei, beide unverdächtig, hatten sich mit großer Leidenschaft hinter die Reformvorschläge des SPD-Kanzlers gestellt.
Weder Moses noch die Zehn Gebote
Die halbe Welt beneidet uns noch heute um diese Einschnitte, die mit dafür verantwortlich sind, dass es Deutschland wirtschaftlich so gut geht. Es ist an der Zeit, dass die SPD diese Politik akzeptiert, auch wenn Korrekturen wie der Mindestlohn fällig waren, den man heute erheblich erhöhen müsste. Übrigens hat Schröder später selber auf Kritik an seiner Politik erklärt: Weder seien es die Zehn Gebote noch sei er Moses. Heißt: Ändert, verbessert die Agenda im Licht der Entwicklung. Heute spielt die Flüchtlingspolitik eine wichtige Rolle, die Integration, aber auch die Frage, wie sage ich es den Deutschen. Bezahlbarer Wohnraum ist ein Problem, die solidarische Gesellschaft, eigentlich schon immer Teil des Grundsatzprogramms der SPD. Und Europa, wo es an Geschlossenheit mangelt, der wachsende Nationalismus und Rassismus. Nicht zu vergessen der Rechtsradikalismus.
Dass die Linke Schröders Agenda immer als „Armut per Gesetz“ diffamiert hat, ist geschenkt. Dahinter steckte von Anfang an vor allem Oskar Lafontaine, der die SPD bekanntlich 1999 verlassen hatte und später der Partei „Die Linke“ beigetreten war. Es gibt manche Version über den Rückzug des Saarländers aus der SPD, ein Punkt war immer, dass er es nicht verwunden hatte, dass Schröder und nicht er Bundeskanzler der Bundesrepublik geworden war. Mancher aus der SPD sollte sich daran erinnern, wie schwer sie sich getan hatten mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt, ebenfalls SPD-Mitglied. Es hatte Jahre gedauert, ehe man sich mit ihm ausgesöhnt hatte. Inhaltlich lag der Hamburger so falsch damals nicht, weder mit seiner Außen- und Sicherheitspolitik, noch mit seinen Forderungen zur Finanz- und Sozialpolitik.