„Dies ist meine Mütze“, schrieb der Lyriker Günter Eich, „dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug, im Beutel aus Leinen.“ Trümmerliteratur, manchen von uns noch aus dem Deutschunterricht bekannt. Eich war 1945 in einem Lager der US Army zwischen Remagen und Niederbreisig eingesperrt, in der sogenannten „goldenen Meile“. Das Gedicht heißt „Inventur“. Es ist ein Wort, das den Kritikern der Europäischen Union, der Kommission und der Räte, also Brüssels und des Parlaments in Straßburg gefallen müsste. Denn es riecht nach Warenbesitz, nach Handel, Krämern und Preis.
Es ist im Blick des Lyrikers auf seine wenigen Habseligkeiten im Kriegsgefangenenlanger entstanden. Zukunft damals? Völlig ungewiss. Deutschland: Kopfschütteln. Europa: Keine Vorstellung. Status: Schockstarre, weil Eich und anderen klar wurde, welch entsetzlichem System sie gedient hatten. Konsequenz: Skepsis. Rückzug auf das, was man sehen, anfassen, an sich ziehen konnte.
Wir heutige sind von dieser Betrachtungsweise so weit weg wie die Erde vom Mond. Wir haben einiges mehr als damals vorstellbar war. Nützliches, Teures, Überflüssiges, Geliebtes, Banales und mit Erinnerung Behaftetes. Unsere Inventur würde Seite um Seite füllen. Wir leben in einem riesigen, funktionierenden Binnenmarkt.
Kette der Wertschöpfung
Hergestelltes setzt sich oft aus Dutzenden Teilen zusammen, die in irgendeinem europäischen Land produziert und von dort aus angeliefert werden, um sich zusammensetzen zu lassen. Die Kette der Wertschöpfung ist lang, viele verdienen daran. Eine schier unglaubliche Infrastruktur ist im Laufe der Jahre gebaut worden. Dieser Markt mit seinen Arbeitsmöglichkeiten macht den meisten der mehr als einer halben Milliarde Menschen in der Union ein halbwegs auskömmliches Leben möglich. Absolute Armut ist weitestgehend verschwunden. Der hochkomplexe Markt scheint den Europäern schon so alltäglich zu sein, dass kaum jemand über ihn noch nachdenkt. Er ist da. Die Regale sind voll, die Lieferung der Bestellung klappt. Das reicht.
Wir leben ferner in einer Rechtsgemeinschaft, die sichert, dass ich in Lettland oder in Portugal so mit Rechten ausgestattet bin wie daheim in der Bundesrepublik. Das war viele Jahre für viele ein Traum. Mein Recht erlischt nicht an der Grenze. Hallelujah. Und das schon seit Jahrzehnten. Das gab es bislang nur in der Civitas Romana. Und die ist schon vor unendlich langer, langer Zeit erloschen. Unglaublich.
Die Deutschen müssten jeden Tag dicke Dankbarkeits-Kerzen in ihren Kathedralen anzünden. Denn sie wurden Anfang der fünfziger Jahre in den langsam beginnenden Binnenmarkt und in eine europäische Rechtsordnung aufgenommen, obgleich ihre Väter- und Großvätergeneration sich alle Mühe gegeben hatte, Europa in Schutt und Asche zu legen und Völker auszurotten. Das ist das eigentliche europäische Wunder. Es wird leider oft vergessen.
Eine Generation wandert
Drittens hat eine ganze Generation begonnen, in Europa zu wandern. Interrail gibt es schon lange. Au pair ebenfalls und Schüleraustausch. Aber jetzt wandern die Absolventen der Fachhochschulen des Rhein-Ahr Campus in Koblenz oder die aus Potsdam wie selbstverständlich guten Angeboten in Zürich oder Paris oder Rotterdam oder Helsinki nach. Und manchmal gucken die Alten noch im Atlas nach, wohin es die Enkel geführt hat. Omas und Opas in Warschau, Madrid oder Riga gucken nach, wie weit es nach Berlin, Köln oder München ist. Manche jungen Frauen oder Burschen fangen da an, wo ihre Großväter bereits begonnen hatten – in schlecht bezahlter Dienstleistung. Andere gründen Geschäfte. Wieder andere heuern bei Boston Consult an. Wie gesagt: eine ganze Generation wandert. Das Netz aus Erfahrungen, Kontakten, grenzüberschreitenden Geschäften, Verträgen, Erfolgen, Misserfolgen, Pleiten und Empfehlungen, aus Hochzeiten und Partnerschaften in Europa wird immer dichter. Es wäre aus der Satelliten-Perspektive so dicht und leuchtend wie der sogenannte Lichterdom. Das hat es noch nie gegeben. Ist uns das bewusst?
Schließlich gibt es noch das Europa, das weltweit agiert: diplomatisch, wirtschaftlich, humanitär oder militärisch. Das ist kein Luxus, sondern notwendig. Es ist im Großen so wie im Kleinen. Man muss sich kennen, man muss sich gegenseitig beurteilen können, ob unzuverlässig oder vertragstreu. Man muss sich melden, Hilfe und Rat anbieten, zur Stelle sein, damit man wer ist. Daher ist´s kompletter Unfug, Konferenzen hinterher zu reisen, um mit Plakaten und Schlachtgesängen präsent zu sein, wenn Regierungsvertreter miteinander reden wollen.
Stolz auf Erreichtes- Oder?
Warum ist unser Stolz auf Erreichtes so gering? Ist das überall in Europa so oder nur in Deutschland? Binnenmarkt und Rechtsgemeinschaft und Arbeitssuche, Niederlassung sind Ergebnisse ungeheurer, tagtäglicher Anstrengungen. Europäische Tüchtigkeit, aus dem Krieg geboren und über Generationen weiter gereicht. Und das Erreichte hat Chancen, noch viel besser zu werden. Warum spielt dieser zentrale Aspekt kaum eine Rolle in der Öffentlichkeit? Warum reden Parteien, die sich als politische Vertretung der Lohnabhängigen verstehen, darüber nicht, sondern immer nur darüber, dass es große Lücken, Fehlentwicklungen gibt?
Die große Masse der Beschäftigten in Europa, der Hersteller und Verteiler ist Veränderungen gewohnt. Wo Regierungen klug waren, haben sie umschulen und Neues lernen lassen. Die Masse ist nämlich nicht träge, sondern sie ist neugierig und lernwillig. Sie hat aber auch einen „hochentwickelten Sinn für Grenzen“ entwickelt (Christopher Lasch: Die Revolte der Eliten). Die einen wollen, dass alles gesünder, keimfreier, risikoärmer, anständiger (politisch korrekt) wird; die anderen wissen, dass ihr Leben stets Risiken birgt, die sich nicht beseitigen lassen. Sie sehen auch, dass die Auffassung der anderen ihnen wachsende Kontrolle des Alltags aufbürdet. Kann es sein, dass hier die Brüche sind, die echte Populisten, also Nationalisten, „We are first“- Denker, Antisemiten, Verführer, nutzen, um sich in die Gesellschaften zu drängen?
Von Populisten mies gemacht
Großbritannien wird die Union verlassen und so einen Teil der gewachsenen Strukturen zerstören. Ob das der einzige Fall von Flucht aus Europa sein wird, das weiß niemand. In Ungarn, in Polen und auch in Italien wird von Populisten die Rechtsgemeinschaft Europa abgewertet, mies gemacht. Im Kreis der östlichen EU- Mitglieder hat sich Furcht festgesetzt. Furcht vor einer aggressiven Politik der russischen Föderation. Folglich setzt sich die Aufrüstung wieder in Bewegung. In anderen Ländern bilden sich separatistische Gruppierungen. Parteien in Deutschland, Frankreich und Italien wollen die Zerstörung von Form und „Geschäftsordnung“ der heutigen Europäischen Union. Man hasst die Eliten und verachtet Institutionen. Die Alternativen zu heute sind unklar. Europa ist unter Druck geraten.
Während die Europäische Union innerlich schwächer wird, wachsen auf anderen Kontinenten und auf deren Märkten machtvolle Konkurrenten. Rücksichtslose Macht von Eliten plus unkontrollierte Marktwirtschaft plus Unterdrückung. Das ist zwar kein Dschungel, und die Union ist im übertragenen Sinn gewiss nicht Mowgli, das Wolfskind, das dem gefräßigen Tiger Shir Khan den Pelz versengt. Aber gefräßige Tiger gibt’s da schon. Es ist zwar schrecklich, aber es ist so: Die innere Stärke Europas hängt auch davon ab, ob der alte, halbe Kontinent zwischen Shannon und der Wolga auf anderen Kontinenten Geschäfte machen kann, respektiert, gefragt und einbezogen wird, wenn Probleme zu lösen sind. Ein Land allein spielt da keine Rolle.
Keine Chance dem Nationalismus
Einer der großen Vorzüge der Bundesrepublik ist, dass der Nationalismus keine Chance auf eine Mehrheit hat. Wir haben uns, seit es die von den USA und auch von den Briten angeschobene Demokratie gibt, nie als etwas Besseres gefühlt. Daran änderten auch schwarz-rot-goldene, wild geschwenkte Fahnen nichts. Und es ist ekelhaft zu hören: Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen. Mehrheitsfähig ist das absolut nicht. Jedenfalls bis jetzt nicht.