Was waren das für Chancen, die sich Europa, ja der ganzen Welt boten, als die Charta von Paris 1990 unterzeichnet wurde?! Was waren das für Chancen für ein neues Europa, für eine friedliche Zusammenarbeit zwischen dem Westen,wenn man so will, und dem neuen Russland nach der Wiedervereinigung, der Auflösung der Sowjetunion, dem Ende des Eisernen Vorhangs?! Was waren das für Chancen, als Gorbatschow dem Westen die Hand reichte und sein Ja zur deutschen Einheit gab?!Haben wir wirklich so schnell vergessen, was Russlands Präsident Putin bei seiner Rede im deutschen Bundestag gesagt hat? Horst Teltschik ruft in seinem neuen Buch „Russisches Roulette“ all diese Ereignisse in Erinnerung. Und man geht nicht zu weit, wenn man diesen wirklichen Kenner und Könner als Kronzeugen für die These nennt, wonach die Nato mehr Grund zur Selbstkritik hätte. Nein, Teltschik redet nicht vom Ende der Sanktionen, sondern davon, dass man zwar Russlands Annexion der Krim nicht gutheißen, aber Moskau die ausgestreckte Hand hinhalten sollte. Fast möchte man meinen, da den alten Genscher gehört zu haben, der wenige Wochen vor seinem Tod die politischen Führer des Westens aufgefordert hatte, auf Putin zuzugehen und ihm die Hand zu reichen. Alles nur Russland-Versteher, Putin-Versteher?
Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden, lautet die Unterzeile des Buches. Der Autor weiß, wovon er redet. Wer ihn gehört hat, damals in den 80er und 90er Jahren, wird sich gern an die Erläuterungen erinnern, die er gab, an die Zusammenhänge in der Politik, die er zog. Er plädierte auf der Basis seiner sachlichen Kenntnisse für die Politik seines Kanzlers, den er beriet. Und den Journalisten erklärte er später all das, was sich dahinter verbarg, warum man so und nicht so agierte. Wohltuend dieser Mann mit seinem Intellekt, seinem Einfühlungsvermögen immer auch für die andere Seite, die es zu verstehen galt, wenn man etwas erreichen wollte. Er wollte etwas erreichen, für Deutschland ja, für Europa ja, aber nicht gegen oder zu Lasten der damaligen Sowjetunion. Er versuchte sich in die Lage von Gorbatschow oder Jelzin zu versetzen, um zu verstehen.
Ein Traum- leider nur
Teltschik hat als außenpolitischer Berater von Helmut Kohl all die Staats- und Regierungschefs erlebt, wie sie miteinander sprachen und verhandelten, ausloteten, wie man endlich den Kalten Krieg beenden und einen unendlichen Frieden ausrufen könnte. Er war dabei, als sie Misstrauen abbauten und Vertrauen schufen, damit atomare Bedrohungsszenarien endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landeten. Gorbatschow wollte ein Zimmer in dem erträumten europäischen Haus. Man stelle sich das vor, wenn es Wirklichkeit geworden wäre. Europa mit Russland, auf einer Ebene des Vertrauens hätte man zusammen etwas entwickeln können. Ein Traum, leider nur.
Wer das Buch von Teltschik liest, spürt, wie der Autor mit sich ringt, wie er darunter leidet, dass all die Chancen vertan wurden, die sich damals boten. Er hält es für falsch, Putin als den omnipotenten Bösewicht darzustellen, der dadurch aber nicht zu einem Heiligen wird. Nein, gewiss nicht, aber mehr Kompromissbereitschaft des Westens, Verhandlungsangebote, damit man im Gespräch bleibt, damit der dünne Faden nichrt völlig abreisst. Kompromissbereitschaft, das ist es, was dem Westen all die Jahre gefehlt hat. Dabei hat er doch die Schlacht im Kalten Krieg gewonnen, die Nato hat überlebt, der Warschauer Pakt ist Geschichte, der Kommunismus hat verloren, der Kapitalismus, besser die soziale Marktwirtschaft mit Demokratie, Freiheit, freien Wahlen, Wohlstand hat gewonnen. Gorbatschow hat vieles aufgeben müssen. Warum blieb ein Stück Großzügigkeit des Westens aus angesichts der Niederlage der Sowjetunion? Musste es sein, dass man sie als Regionalmacht verspottete, wie es Obama tat? Gorbatschow hat auf die Frage, die ihm Willy Brandt gestellt hat, was er sich denn vor allem wünsche, schlicht geantwortet: Verständnis, mehr Verständnis.
Wie trotzige Kinder im Sandkasten
Teltschik mahnt die Europäer, namentlich die Deutschen, die Nato, auf Kooperation zu setzen und nicht Konfrontation. Es ist ja auch lachhaft, wenn an der Grenze zu Russland immer mal wieder militärische Manöver stattfinden. Was will die Nato damit erreichen? Russland demonstrieren, wie stark man ist? Wie überlegen? Letzteres stellt doch niemand in Frage. Und so zu tun, als müssten Polen und Balten geschützt werden, indem man ein paar Panzer, Flugzeuge und Soldaten in die Nähe der russischen Grenze verlegt, das ist wie das alte Indianerspiel im Sandkasten, als wären sie trotzige Kinder. Es wird aufgerüstet, was unendlich viel Geld verschlingt, Geld, das man dringend bräuchte, um an anderer Stelle nachzurüsten- im sozialen Bereich, in der Pflege, in der Rente, im Wohnungsbau, in der Infrastruktur.
Eine neue Entspannungspolitik müsse her, fordert Teltschik, der nach dem Ende der Kanzlerschaft von Kohl einige Jahre Chef der Münchner Sicherheitskonferenz war. Nein, da redet nicht irgendein alter Mann, der als Rentner zuviel Zeit hat und sich langweilt, da redet ein politischer Zeitzeuge mahnend an die Adresse vor allem der Europäer. Er erinnert an die Ostpolitik von Willy Brandt, an seine Formel, wohl erdacht von seinem Freund Egon Bahr: Wandel durch Annäherung. Wer Brandt, den Friedensnobelpreisträger erlebt hat, kennt dessen Einsatz für den Frieden: So lange geredet wird, wird nicht geschossen, lautete eine seiner Kernsätze. Er fuhr nach Moskau, wo ihn mit Breschnew auch ein harter Brocken erwartete, aber Brandt fuhr hin, um auszuloten, was möglich war, um zu erfahren, welche Wünsche und Sorgen die Russen hatten. Man darf ja nicht die historischen Erfahrungen der Russen vergessen: Zweimal wurden sie überfallen, einmal von Napoleon, das andere mal durch Hitler.
Entspannung, Frieden. Bloß kein neuer Krieg. Zwei Weltkriege in einem Jahrhundert mit rund 100 Millionen Toten, mit Verwüstungen in vielen Ländern. Reicht das denn nicht, damit endlich Schluss ist mit Aufrüstung! Teltschiks Buch ist eine Mahnung an alle, Vertrauen zu schaffen, ja, auch Russland zu helfen. „Nichts hat den Weg in die Konfrontation so beschleunigt wie das wachsende gegenseitige Misstrauen zwischen Russland und dem Westen. Gegenwärtig vermuten beide Seiten bei ihrem Gegenüber meist die schlimmstmöglichen Absichten und Motive.“
Eine gewisse Überforderung
Vielleicht wollte man damals zuviel, es mag sein, dass es eine gewisse Überforderung gab, zuviel zu gestalten war: Integration neuer Mitglieder im Osten, Vollendung des Binnenmarktes, Wirtschafts- und Währungsunion, seit ein paar Jahren eine Asyl- und Einwanderungs-, auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber nicht ganz falsch ist auch die Annahme, wonach der Westen die Sowjetunion als Konkursmasse zur freien Bedienung ansah. Es war Arroganz im Spiel der Sieger über den lahmen, mehr als angeschlagenen russischen Bär, der sich aber erholt hat und die Krallen zeigt. Putin hat seinem Volk den Stolz zurückgegeben: Wir sind wieder wer! Man unterschätze das nicht. Überhaupt wäre es angebracht, nicht immer die Vorstellungen des Westens den anderen als Weisheit letzter Schluss verabreichen zu wollen. So schnell wird Russland sich nicht ändern lassen, nach Jahrhunderten der Bevormung durch die Zaren-Herrschaft wie die kommunistische Kommandowirtschaft. Und man unterschätze nicht, dass bei aller Kritik an Putin dieser im eigenen Lande durchaus Freunde hat, ja eine Mehrheit im russischen Volk.
Man sollte die Rede Putins 2001 im Bundestag wieder aufgreifen. Damals sprach er von „besonderen Gefühlen“ gegen Deutschland, nannte es ein „bedeutendes Zentrum der Weltkultur“, sprach von „Frieden und Partnerschaft“. Der Bundestag applaudierte- mehr nicht. Leider. Deutschland, Frankreich und Polen sieht der Autor als entscheidenden Motor für die Entwicklung konstruktiver Beziehungen zu Russland. Eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung und eine gesamteuropäische Freihandelszone müssten im Interesse aller sein, auch Polens.
Teltschik sieht in Russland seit 1990 eine neue Generation heranwachsen, die keine Sowjetunion, keinen Kommunismus und keinen Kalten Krieg erlebt habe. „Sie will eine friedliche und materiell gesicherte Zukunft- wie alle Menschen in Europa. Wir sollten zusammenarbeiten, die bereits errichteten Brücken weiter pflegen, neue Brücken bauen.“ Schreibt Teltschik und erwähnt einige Möglchkeiten wie den Jugend- und Studentenaustausch, gemeinsame Projekte in Wissenschaft und Kultur, Visa-Freiheit, Städtepartnerschaften, wirtschaftliche Kooperationen bis zur Zusammenarbeit bei der Entsorgung von Atomabfall wie auch bei der Internationalen Weltraumstation ISS. Und zitiert abschließend die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Satz. „Brücken sind schnell zerstört, aber es dauert lange, sie wiederaufzubauen.“ In diesem Sinne endet das Buch mit einem Aufruf des Autors an alle: „Fangen wir wieder an.“
Bildquelle: Buchtitel
'Vertane Chancen seit 1990 – Horst Teltschiks Buch „Russisches Roulette“' hat keine Kommentare
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