Schon ein paar Tage hatte die SPD nun Zeit, ihr Jahrhundertereignis zu verarbeiten: Bekanntermaßen wurde mit Andrea Nahles erstmals eine Frau Vorsitzende der ältesten demokratischen Partei. Und nicht nur das, gegen sie trat mit der Flensburger Oberbürgermeisterin eine nur kommunalpolitisch erfahrene Konkurrentin an, deren Bereitschaft, eine Niederlage hinzunehmen, kein vergleichbarer männlicher Konkurrent auf sich genommen hätte. Dennoch war ihre Kandidatur für die SPD segensreich, wenn auch Anlass, in mancher Redaktionsstube nur noch den Kopf zu schütteln und über die innere Zerrissenheit der Sozis zu lamentieren. So viele Krokodilstränen wurden selten über die SPD vergossen, die es sich erlaubt hatte, ein demokratisches Verfahren vorzuziehen. Die Delegierten standen tatsächlich vor einer Wahl und das auch noch zwischen zwei Kandidatinnen. Die SPD kann stolz darauf sein.
Die Notwendigkeit, die Erneuerung anzupacken, die den Parteitag in Wiesbaden durchzog, hätte, schon bevor sie eingeleitet werden konnte, jede Glaubwürdigkeit verloren, wäre erneut ein Spektakel organisiert worden, das in Wahrheit kein ehrliches Wahlergebnis für den Vorsitz zugelassen hätte. Wohin aber selbst eine hundertprozentige Zustimmung für den Parteivorsitz führen kann, hatten die Delegieren als Erfahrung vor Jahresfrist sicher noch in übler Erinnerung. Das Ergebnis von Wiesbaden war jedenfalls ehrlich und zeigte, was der Unterschied ist zwischen einer demokratischen Entscheidung, und einem keinen Widerspruch zulassenden Führerprinzip. Jedenfalls ist es kein Schutz davor, sowohl als Parteivorsitzender als auch als Kanzlerkandidat krachend abzustürzen.
In soweit steht die SPD vor der schwierigsten Phase einer notwendigen, sie wieder erkennbar machenden programmatischen Erneuerung, und sie ist zugleich in der GroKo in der Pflicht, bei der Überwindung der Spaltung der Gesellschaft voranzugehen. Es ist ja deutlich, dass die innere Auseinandersetzung in der Union erst begonnen hat. Den Vertrag mit der SPD umzusetzen, wird ihr schwer fallen. Ohne den feigen Rückzug der FDP aus der Regierungsverantwortung hätte die CDU es in der Jamaika-Koalition jedenfalls leichter gehabt, ihre konservative Klientel zu befriedigen.
Schon jetzt zeigt sich, wie schwer es ihr fallen wird, die Koalition erfolgreich zu managen.
Es sei denn, die SPD wäre erneut hasenfüßig und ließe sich die entsprechenden Absichtserklärungen, die sie in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, wieder abhandeln, etwa bei Altersarmut und Pflegenotstand, oder außenpolitisch bei der Überwindung der Krise Europas an der Seite des französischen Präsidenten Macron. Sollte der SPD die Stimmung in der Koalition wieder wichtiger werden als ihre Bedingung, in den nächsten vier Jahren mehr soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, wäre der Selbstmord aus Angst vor dem Tod programmiert. Es wäre ein Verlust, der den demokratischen Rechtsstaat bis ins Mark treffen würde.
Bildquelle: flickr, SPD Schleswig-Holstein, CC BY 2.0