Die deutsche Sozialdemokratie steckt in einem geradezu verzweifelten Existenzkampf um ihre Perspektive als Volkspartei, die irgendwann einmal wieder die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler stellen kann. Es handelt sich dabei um eine Krise, die mehr oder weniger auch die gesamte europäische Sozialdemokratie erfasst hat.
Identitätskrise der SPD
Über diese Perspektive wird aber nachhaltig nicht etwa durch den anstehenden Ausgang des Mitgliederentscheids zur „ GroKo“ oder gar durch den genauso hektischen wie inflationären Personalwechsel an der Parteispitze entschieden. Es geht vielmehr primär um eine programmatische Identitätskrise der Sozialdemokratie, weil die SPD – wie die meisten ihrer europäischen Schwesterparteien – ihr früher unverwechselbares Eigenprofil bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen hat.
Sozialdemokratie schrumpft europaweit
Das gilt inzwischen für Österreich genauso wie für Frankreich, Holland, Dänemark, Italien, Spanien oder Griechenland. Dass es keine naturgesetzliche Untergrenze bei der Schrumpfung der Sozialdemokratie gibt, zeigen insbesondere der Niedergang der einstmals stolzen französischen Parti Socialiste ( PS) , der niederländischen Partei der Arbeit ( PvdA) und der griechischen Sozialdemokraten (PASOK), die als ehemals führende Regierungsparteien zu kleinen Splitterparteien „verzwergt“ wurden.
Positive Ausnahmen: Costa und Corbyn
Interessante Ausnahmen gab es dabei auch: Sowohl die portugiesische Partido Socialista (PS) mit Ministerpräsident Antonio Costa als auch die britische Labour Party mit dem betagten Guru Jeremy Corbyn schafften inzwischen eine viel beachtete Trendwende, wobei Corbyn mit seiner jahrzehntelang gewachsenen Glaubwürdigkeit zu einem wahren Idol der jungen Generation wurde. In beiden Fällen wurde übrigens der Umschwung mit einem zunächst europaweit angefeindeten klaren Kontrastprogramm zur konservativen Konkurrenz und ihrem stramm neoliberalen Kurs durchgesetzt.
Fehlendes Alleinstellungsmerkmal
Heute hat die SPD gegenüber der Union als ihrem Hauptkonkurrenten nirgendwo mehr ein hinreichend dominantes Alleinstellungsmerkmal, das in der Wahrnehmung der Wählerschaft- und darauf kommt es wohl an – durch mutiges Engagement, überragende Kompetenz und große Glaubwürdigkeit einen Wahlkampf positiv entscheiden könnte. Wo ist z. B. außenpolitisch ein vergleichbarer Kontrast zur Union, wie ihn einst entspannungspolitisch Willi Brandt, aber später auch – mit der Ablehnung des Irakkriegs – Gerhard Schröder unter enormen persönlichen Anfeindungen kämpferisch durchgehalten haben. Und wo ist trotz aller unbestreitbaren Einzelerfolge in der bisherigen Großen Koalition im Themenbereich „ soziale Gerechtigkeit“ beim letzten Bundestagswahlkampf ein solcher „Big Point“ sichtbar geworden?
Markenkern wichtiger als Personalwechsel
Es fehlt einfach –zugegeben etwas flapsig formuliert- der unverwechselbare Markenkern der SPD, der jedem auch sofort einfallen würde, wenn man ihn um Drei Uhr nachts mit dieser Frage aus dem Schlaf rütteln würde. Die hiermit aufgeworfene programmatische Frage nach der Identität der SPD ist weit wichtiger als die hektische Kür eines temporären „ Supermanns“ wie 2017 im Falle von Martin Schulz, oder die demnächst wahrscheinlich anstehende erstmalige Wahl einer „ starken Frau“ zur Parteivorsitzenden. Um diese programmatische Identität geht es primär, wenn von der“ Erneuerung der Sozialdemokratie“ gesprochen wird und nicht um das Auswechseln von Köpfen oder Gesichtern.
Mitgliederentscheid zur „GroKo“
Die wichtigste strategische Zukunftsfrage der deutschen Sozialdemokratie ist trotz des aktuellen medialen Hypes auch nicht der fiebrig erwartete Ausgang des Mitgliederentscheids zur „GroKo“. Natürlich muss man plausiblerweise annehmen, dass die sozialdemokratischen Wahlaussichten nach einem „Nein“ im Falle von Neuwahlen noch schlechter wären als die Ergebnisse am 24. September letzten Jahres. Und dabei würde nicht nur die SPD beschädigt, sondern mit Blick auf das denkbare Wahlergebnis der AfD auch unsere Demokratie insgesamt. Aber auch bei einem „Ja“ zur „GroKo“ ist noch lange nicht gesagt, dass die Führung der SPD es anschließend auch schafft – wie einst in der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 mit Willi Brandt und Karl Schiller- neben einer kompetenten tagespolitischen Ressortarbeit gleichzeitig die programmatischen Kontraste mit Blick auf die nächste Legislaturperiode zu markieren. Und dabei kann durchaus auch eine polarisierende gesellschaftliche Zukunftsdebatte unserer Demokratie nutzen.
Bildquelle: Wahlplakate Archiv, Jan Schuster, www.wahlplakate-archiv.de, CC BY-NC-SA 2.0 DE