Eigentlich sollten sich mitten in der schwersten EU-Krise und in der Endphase einer so wichtigen Europawahl die konkurrierenden Parteien voll auf den Wahlkampf konzentrieren. Es ist daher erstaunlich und riskant, dass die neue CDU- Vorsitzende Annegret Kramp- Karrenbauer ausgerechnet jetzt die ohnehin schon summende Spekulation über einen vorgezogenen Kanzler*Innenwechsel höchst selbst in der „Welt am Sonntag“ noch befeuert hat: Dies natürlich professionell kaschiert durch die verbalen Nebelgranaten, dass Angela Merkel bis 2021 gewählt und dass ein „mutwilliger Wechsel“ im Kanzleramt nicht ihr Ziel sei.
Kunstvoll verschlungene Machtspiele
Dabei entspringen die kunstvoll verschlungenen Machtspiele in Berlin und speziell ein vorgezogener Wechsel im Kanzleramt nach allen aktuellen Meinungsumfragen eindeutig nicht der mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung. Diese medial trickreich verstärkte Dauerspekulation ist vielmehr Ausdruck der latenten Sehnsüchte und Ängste in Parteizentralen, Fraktionen oder im Regierungsapparat. Daneben geht es natürlich jenem Teil der Medien, der sich nicht nur auf Berichterstattung und Analyse konzentrieren will, bei der Verstärkung des medialen Grundrauschens auch um einen aktiven Gestaltungsanspruch im Wechselspiel mit der Politik.
Die Rätsel der Sphinx
Doch Angela Merkel, die schwer auszurechnende Sphinx von der Uckermark hat mit ihrem Rücktritt als CDU-Parteivorsitzende alle an diesem Machtspiel Beteiligte vor einige ungelöste Rätsel gestellt:
Erstens kann man davon ausgehen, dass die SPD-Fraktion im aktuell gewählten Deutschen Bundestag unter Fortführung der regierenden Großen Koalition Annegret Kramp-Karrenbauer niemals zur neuen Bundeskanzlerin wählen würde, um ihr dadurch eine längere Profilierungsstrecke mit Amtsbonus im Kanzleramt vor dem nächsten Bundestagswahlkampf zu verschaffen. Dies widerspräche allen Gesetzen demokratischer Konkurrenz- und Machtlogik. Es kann nicht Aufgabe der SPD sein, der Union einen eleganten Stabwechsel im Kanzleramt zu organisieren.
Auch für den Fall, dass Angela Merkel bereit wäre, durch ihren Rücktritt verbunden mit einem Koalitionswechsel das Kanzleramt frei zu machen, wäre die Lage vertrackt. Warum sollten die Grünen als heute kleinste Bundestagsfraktion bei einem erneuten „Jamaika-Versuch“ mitwirken, ohne auf vorhergehende Neuwahlen zu bestehen. Nur so könnten sie ihre aktuellen Umfragewerte in einen entsprechenden Zuwachs der Parlamentssitze als dann zweitgrößte Bundestagsfraktion realisieren. Es wäre für die Grünen absurd, auf eine solche Stärkung ihres politischen Gewichts in einer neuen Koalition zu verzichten.
Option Neuwahl
Also bleibt als realistische Option, wenn sich Kramp-Karrenbauer die Durststrecke zum Kanzleramt bis 2021 etwas verkürzen will, doch nur eine vorgezogene Neuwahl des Deutschen Bundestags. Genau diese Variante haben mediale Drehbuchautoren eines Kanzler*Innenwechsels auch angeblich schon im Bundespräsidialamt sondiert und rechnen dabei nicht mehr wie zu Anfang dieser Legislaturperiode mit einer ablehnenden Haltung von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier.
Der Bundespräsident kann nicht präjudiziert werden
Doch bleiben auch bei solchen Denkspielen wacklige Prämissen und Risiken offen: Der Bundespräsident kann im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse natürlich auch nicht durch noch so bedeutsame Magazine präjudiziert werden.
Zudem ist es verwegen anzunehmen, dass Angela Merkel nach einem nicht unwahrscheinlich enttäuschenden Ergebnis bei der Europawahl am 26. Mai zurücktritt. Schließlich hatte sie demonstrativ ihrer Nachfolgerin im CDU-Parteivorsitz die Bühne im Europawahlkampf überlassen. AKK wird als Parteivorsitzende daher neben dem europaweit agierenden EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber die Ergebnisse am Wahlabend zumindest für die CDU verantwortlich vertreten dürfen bzw. müssen.
Rücktritt vor der EU-Ratspräsidentschaft schwer vorstellbar
Schwer vorstellbar ist auch die Annahme, dass Angela Merkel ausgerechnet vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 auf die großen internationalen Darstellungsmöglichkeiten und vor allem auf die sogar historischen Gestaltungschancen dieser Präsidentschaft angesichts der aktuellen EU-Krise verzichtet.
Beharrungskräfte einer Koalition
Zudem unterschätzen die um einen störungsfreien und stilvollen frühen Wechsel von Merkel zu Kramp-Karrenbauer besorgten Spindoktoren die Beharrungskräfte gewählter Parlamente und Regierungen. Diese Kräfte können weit stärker sein als die strategischen Überlegungen, die Annegret Kramp-Karrenbauer, Andrea Nahles oder Markus Söder aus der Halbzeitbilanz der GroKo ableiten: Es ist alles andere als sicher, dass das Gros der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion – bei nüchterner Einschätzung der Risiken von Neuwahlen und insbesondere der höchstpersönlich zu tragenden Folgen – den großen inhaltlichen Koalitionskonflikt sucht, der zu einem Bruch führt. Das können auch Parteivorsitzende schwer ignorieren. Auch wenn die SPD- Parteispitze nach einem enttäuschenden Ergebnis bei der Europawahl und einer zeitgleichen traumatischen Bremer Bürgerschaftswahl in der GroKo keine Perspektive mehr sehen sollte, könnte ein verzweifelter Ausbruchsversuch aus der Regierung zu ruinösen innerparteilichen Zerreißproben führen.
Fazit: Keine der bisher medial kolportierten Spekulationen um das Kanzleramt sind verlässlich. Es könnte daher auch sein, dass trotz aller aktuell kunstvollen Machtspiele die Große Koalition mit Bundeskanzlerin Merkel die gesamte Legislaturperiode übersteht und Annegret Kramp-Karrenbauer froh sein muss, wenn sie dann, wie andere auch, nach den Mühen der Ebene ohne Amtsbonus als neue Kanzlerkandidatin in den Wahlkampf ziehen darf.
Bildquelle: Wikipedia, Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0