Europa

Europas Chancen

Der Historiker an der New Yorker Columbia Universität Adam Tooze hat einen lesenswerten Beitrag in der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik  veröffentlicht. Der Beitrag trägt den Titel: „Der Kampf des Jahrhunderts“ (er war zuvor in der London Review of Books veröffentlicht worden, unter der wenig kämpferíschen   Überschrift „Whose Century?“).

Adam Tooze gehört zu den herausragenden  erzählenden Historikern. Mich hat er immer wieder in seinen Bann geschlagen. Er ist ein Anstoßgeber und faszinierend berichtender  linker Wirtschaftshistoriker. In diesem Artikel beschreibt er die Voraussetzungen und die Etappen der Auseinandersetzung zwischen der Wirtschaftsmacht Nummer 1, den USA (noch!) und der auf dem Fuße folgenden  Wirtschaftsmacht Nummer 2, der Volksrepublik China; der wohl die halbe USA gehört, gemessen an den  US-Obligationen in Besitz der chinesischen Kommunisten.

Es sei nicht gelungen, die Volksrepublik durch Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation zu domestizieren, sondern die wirtschaftliche Kraft Chinas in Verbindung mit ihrem tief autoritären, gesellschaftlichen Modell habe längst begonnen, die WTO zu dominieren. Für die  Führung Chinas seien Ökonomie und Sicherheitspolitik praktisch identisch. Die Strategie, die Volksrepublik  in die globale Wirtschaft fest einzubeziehen und so zum Partner zu machen, sei krachend gescheitert. Für Tooze ist das wie manches andere ebenso Resultat des Versagens der politischen Elite der Vereinigten Staaten. Mir geht es hier nicht um eine Deutung dieser Position, sondern darum, nachzuschauen, welche Folgerungen für die Europäische Union zu ziehen sind.

Eine Linie hierbei liegt klar auf der Hand. Beiden Giganten geht es um den ersten Rang, um politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss unter der Bedingung dieses „Giganten-Kampfes“. Welche europäische Position ist angesichts der beiden ineinander verkeilten Supermächte möglich beziehungsweise anzustreben? Schieben sie die EU beiseite? Wie sehen sie die Verhältnisse zwischen EU und der russischen Föderation? Welche Rolle spielt die russische Föderation in diesem Zusammenhang? Ist Europa bereits eine Art geographischer „Hinterhof“ für die beiden? Gibt es in die Zukunft führende Bündnisvorstellungen der beiden „Giganten“?

Wir hier in Europa und in unserer normenmäßig ambitionierten EU werden an Ränder des Geschehens gedrückt – wie Helmut Schmidt dies bereits vor vielen Jahren prophezeit hat. In der Krisen- und Nachbarregion zwischen Istanbul und Kairo, Teheran und Aden sind die Europäer das längst.  Obwohl die russische Föderation mit einem Bruttoinlandsprodukt von unter zwei Billionen weit, weit hinter Frankreich mit 2,8 Billionen liegt – in US-Dollar gerechnet – hat sie die Europäer in der erwähnten Krisenregion verdrängt. Werden wir folglich noch gefragt, wenn es sich um Aspekte der Auseinandersetzung zwischen den USA und China  dreht?

Warum sollten so machtfixierte Kolossal-Staaten auf Europa schauen?

Im Westen setzt sich Großbritannien ab. Die geographisch westlichen, nördlichen und südlichen Teil Mitteleuropas verteidigen wie zuvor die liberale repräsentative Demokratie. Ein anderer Teil, östliches Mitteleuropa setzt sich von der liberalen repräsentativen Demokratie langsam ab. Mit ungewissem Ende. In einer brennend aktuellen Frage, der Einigung auf Hilfen gegen die Folgen der Corona- Pandemie schaut man auf eine mühsame, quälende Abfolge von Treffen mit Kompromissformeln. Die „Giganten“ mögen zwar auf Europa herabschauen, hinschauen tun sie allemal.

Wie lautet die erste Forderung angesichts dieses „Umfelds“?

Es muss eine grundlegende Bedingung erfüllt werden: Das schwächste Land in der EU, das schwächste Glied  in der Kette der EU- Staaten muss wirtschaftlich und sozial so stark gemacht werden, dass die Union  sich auch auf dieses Land sicher stützen kann, statt es andauernd zu subventionieren und über Wasser zu halten. Und diese Bedingung ist an Wachstumsförderung und Umverteilung, an einen EU- gemeinsamen Umgang mit Steuern auf Kapital und Gewinn gebunden. Wer das bestreitet, sollte es von vorn herein sein lassen und Boris Johnson folgen.    

In diesem Zusammenhang auf die russische Föderation hoffnungsvoll zu schauen, ist naiv. Das Putin- Modell ist ja nicht mal in der Lage, der eigenen Bevölkerung einen halbwegs akzeptablen Lebensstandard zu sichern. Und bis zum Sankt Nimmerleinstag wird die russische Bevölkerung darauf nicht warten.

Andere in die Zukunft gerichtete Bedingungen  entspringen ursozialdemokratischem Programm:

Unabweisbar ist, eine Initiative der Kommission von Anfang dieses Jahres voran zu bringen und zu verstärken: Und zwar die Verbreiterung sowie die Verbesserung der Mindestlöhne in der EU, so dass eine Existenzen-Sicherung in allen Ländern der EU Realität wird, die diesen Namen verdient. Durch dieses Vorhaben wird entschieden, ob die EU eine soziale Union sein wird. Es ist der Schlüssel zu einem neuen Verständnis der Europäer untereinander.

Eine zweite Bedingung: In der EU muss die Rechtsgrundlage für allseits geltende, wirksame  Mitentscheidung und Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten geschaffen werden. Dies ist eine traditionsreiche Forderung, sie ist zugleich in die Zukunft und auf neue Formen von Arbeit und Wertschöpfung gerichtet.

Umarbeiten der Produktionsbasen und Verkehre weg von der Verbrennung fossiler Stoffe hat begonnen, ist auch nicht mehr zu stoppen. Wir alle müssen lernen, Natur zu schonen. Die Demokratie am Ort der Wertschöpfung  macht diesen Prozess übrigens einfacher, leichter, weil so die alte soziale Frage Europas mit einbezogen wird. In Eugene Pottiers Text heißt es: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun…“ Das ist ja was dran. Unbestreitbar. Schauen wir uns daher an, was wir uns in Europa selber  bieten können.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Hans Braxmeier, Pixabay License

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Über  

Redakteur 1972 und bis 89 in wechselnden Redakteursaufgaben. 90 bis 99 wiss. Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion, Büroleiter Dreßler, 2000 Sprecher Bundesarbeitsministerium, dann des Bundesgesundheitsministeriums, stellv. Regierungssprecher; heute: Publizist, Krimiautor, Lese-Pate.


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