Identität. Das Wort entfacht Kontroverse. Robert Menasse hat auf dem EuropaCamp in Hamburg nicht nur aus seinem Roman „Die Hauptstadt“ gelesen. Er hat sich auch aufs Podium gesetzt und diskutiert. Sachlicher, als am Vortag Jan Böhmermann im Disput mit Frank Decker, eindringlicher, einleuchtender, überzeugender.
Ein Visionär. Der Schriftsteller aus Wien betrachtet das europäische Einigungswerk vom Gründungsgedanken her. Grundsätzlich rigoros. „Nie wieder Auschwitz“ und „Nie wieder Krieg“ seien die Gründungsimpulse gewesen, „präziser gefasst“ müsse es lauten: „Frieden durch Überwindung des Nationalismus“.
Die Lehre aus der Geschichte erforderte mehr als Verträge zu schließen und Bündnisse einzugehen. Wer den Frieden sichern wolle, müsse den „Nationalismus als Aggressor überwinden“.
Menasse reagierte auf Joachim Lux, den Intendanten des Hamburger Thalia Theaters. Der hatte gemahnt, es helfe nicht weiter, nur „das Positive zu beschwören“, man müsse „auch die Versäumnisse benennen“. Die Rechtspopulisten seien die Folge, nicht die Ursache. Konkret: „Die nationale Identität hebt sich nicht auf.“ Lux zitierte die Sozialdemokratin Gesine Schwan mit ihrem Credo: „In Berlin bin ich Berlinerin, in Paris Europäerin, in Tokio Weltbürgerin.“
Nachdenken über die Nation. Menasse berichtete von einer Diskussion in Münster und die Meinungsverschiedenheit zweier Universitätsprofessoren. Sie stritten darüber, ob Deutschland seine Führungsrolle in Europa mit mehr Selbstbewusstsein oder mit mehr Demut ausfüllen solle.
„Die Europäische Union wurde doch gerade gegründet“, so Menasse mit einer wegwischenden Geste, „damit Deutschland nicht wieder in eine Führungsrolle kommt.“
Der Schriftsteller kann auch Kabarett. „Österreich als nationales Identitätsangebot war für mich nie sinnig“, sagt er und verdeutlicht mit den Stichworten Alpenrepublik, Lederhosen, Trachten, Blut und Loden, wie fern die Klischees ihm als Bürger von Wien sind. Die Menschen in Bratislava seien ihm von der Mentalität her näher als der „Tiroler Bergbauer“. Keine Herabsetzung, kein Scherz.
Nach der entschiedenen Absage an das Konstrukt der Nationalität, das Menasse auch in seinem Roman hinterfragt, überrascht er das Publikum mit einem Begriff, der Konjunktur hat und an dem sich auch die Geister scheiden: „Ich lass mir den Heimatbegriff nicht wegnehmen.“ Heimat, das sind für Menasse „Tonfälle, Farben, Gerüche, soziale Codes“, Emotionen der Zugehörigkeit, des Vertrautseins, der Verständigung.
Dazu wünsche er sich für Europa einen „gemeinsamen verbindlichen Rechtszustand, ergänzt durch gemeinsame Demokratie“. Es sei „nicht einzusehen, warum in einem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum national bilanziert wird“. Es sei „grotesk“, dass im gleichen Markt die Zugänge zu Bildung, Gesundheit und die Besteuerung verschieden seien, dass das Europaparlament nach nationalen Listen gewählt werde. „Es fehlt an gemeinsamer europäischer Demokratie.“
Katharina Fegebank, Hamburgs zweite Bürgermeisterin, die für den SPD-Politiker Olaf Scholz einsprang, sagte, nicht der „Rechts- und Linkspopulismus machen Europa kaputt“, sondern „unerfüllte Hoffnungen der Menschen an ein geeintes Europa“. Die EU sei ein „Gebilde, das nicht mehr verstanden wird“, Bürokratie werde nicht als Errungenschaft der Zivilisation wahrgenommen, sondern als „etwas, das uns in den Würgegriff nimmt“.
In einem Atemzug nannte die Grüne die Wahlerfolge von Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich als Belege dafür, dass Europa ein Gewinnerthema sein könne. Martin Schulz und die SPD hingegen hätten „sich nicht getraut“. Das war nach dem spannenden Exkurs über Identität, Nation und Heimat ein Rückfall ins Realpolitische, der Fegebank wohl auch selbst etwas dürftig vorkam. „Ja“, sagte sie in Richtung von Robert Menasse, „so eine Vision ist natürlich toll.“ Aber die. Verhältnisse, sie seien nunmal nicht so…