Die Bilder von der griechisch-türkischen Grenze sind unerträglich. Sie ähneln denen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2015 noch zu ihrem ermutigenden „Wir schaffen das“ bewegt haben, und denen, die im Jahr darauf den fragwürdigen Deal der EU mit der Türkei begründeten.
Menschen, die in tiefster Verzweiflung vor Bomben und Granaten fliehen, stranden am Stacheldraht, werden mit Tränengas attackiert, von rechten Schlägertrupps angegriffen, mit aller Macht bekämpft. Im taktischen Kalkül der Mächtigen geht die Menschlichkeit vor die Hunde. Europas Seele blutet. Die Europäische Union verliert ihre Würde.
Sie hat sich dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgeliefert, der den Flüchtlingsdeal schamlos zur Erpressung nutzt. Sie hat sich erpressbar gemacht, weil sie bis heute keine Einigkeit über eine gemeinsame europäische Migrationspolitik hergestellt hat. Die EU ist von den erstarkenden Nationalisten und Rechtspopulisten in diese Krise manövriert worden, und es fehlt an politischer Kraft, die gemeinsamen Werte zu verteidigen.
Angst beherrscht die aktuelle Lage und lähmt die EU bis zur Selbstaufgabe. Ein Aussetzen des Asylgrundrechts ist ein ungeheuerlicher Vorgang, der einer Bankrotterklärung gleichkommt. Ein Verreckenlassen darf es nicht geben. Humanitäre Hilfe ist das Mindeste, was das wohlhabende Europa zu leisten hat. Außerdem entschlossene Diplomatie, die nicht nur Erdogan, sondern auch den russischen Präsidenten Putin in die Schranken weist.
So absehbar es war, dass Erdogan die Hilfesuchenden als Druckmittel gegen die EU einsetzen würde, war auch die militärische Eskalation in Nordsyrien. In Idlib, der letzten syrischen Provinz, die die Assad-feindlichen Rebellen beherrschen, gilt offiziell eine Waffenruhe, doch die ist das Papier nicht wert, auf dem sie vereinbart wurde. 900.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen auf der Flucht. Ihr Ziel ist die Türkei, die bereits mehr als drei Millionen Flüchtende aufgenommen hat.
Erdogans menschenverachtendes Treiben mit den an Leib und Leben bedrohten Männern, Frauen und Kindern zielt nicht allein auf mehr Milliarden, sondern auch auf militärischen Beistand in der ausweglosen Situation, in die er seine Soldaten auf dem Schlachtfeld gebracht hat. Die europäische Grenzschutzorganisation Frontex verschärft den Druck mit ihrer Warnung vor neuen Fluchtwellen nach Europa. Doch die Nato wird sich hüten, ihrem Mitgliedsland Türkei bei seinen Machtambitionen in der Region zur Seite zu springen und sich in Syrien in einen gewaltsamen Konflikt mit Russland zu begeben. Verhandlungen sind der einzige Weg.
Darauf zu drängen und der Diplomatie den Weg zu bahnen, ist Aufgabe der EU. Um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und ihrer Werte Willen muss sie Humanität walten lassen. Allein in Deutschland haben Dutzende Städte sich zu sicheren Häfen und die Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen in Not erklärt. Es gibt aller rechtsradikalen Hetze zum Trotz eine Mehrheit für Menschlichkeit. Die Demokratie muss sich nicht erpressen lassen, weder von Erdogan und Putin, noch von rechten Hasspredigern.
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'Im Stacheldrahtverhau verliert Europa seine Würde' hat einen Kommentar
5. März 2020 @ 13:12 Fruufus Maximus
–„Menschen, die in tiefster Verzweiflung vor Bomben und Granaten fliehen, stranden am Stacheldraht, werden mit Tränengas attackiert, von rechten Schlägertrupps angegriffen, mit aller Macht bekämpft.“–
Leider ist es diese absichtsvolle Falschdarstellung, mit der schon am Anfang klar wird, hier so nicht sachlich dargestellt werden, hier verzerrt jemand bewusst, um seiner moralischen Sicht Legitimation zu verschaffen. Diese Menschen sind in der Türkei in einem vor dem Krieg sicheren Drittland und leben dort teilweise schon seit Jahren.
Es ist die Türkei selbst, ein Nato-Partner und EU-Beitrittskandidat, die für das Leid dieser Menschen an der Grenze Verantwortung trägt.
https://www.welt.de/politik/ausland/article206334485/Tuerkei-Griechenland-Wir-gehen-ueber-die-Grenze-niemand-kann-uns-aufhalten.html