Friedrich Merz denkt nicht sozial, sieht im Wohlfahrtsstaat vielmehr nur ein Wirtschaftsunternehmen, das „ein stärkeres Fundament aus Eigenkapital und Kapitalmarktorientierung“ (S. 174) benötige, weshalb eine „große Sozialstaatsreform“ (S. 166) nötig sei. Merz zufolge löst der moderne Sozialstaat kein Problem, sondern ist selbst eins geworden: „Der alles umsorgende Wohlfahrtsstaat alter Prägung ist nicht mehr länger bezahlbar. Der Kapitalismus im marktwirtschaftlichen Sinne könnte die Funktionsfähigkeit unseres Sozialstaats nicht nur besser organisieren, er könnte auch die vorhandenen Mittel viel wirkungsvoller einsetzen.“ (S. 175)
Entsprechend dem Buchtitel mehr Kapitalismus zu wagen, bedeutet für Merz aus Politikersicht hauptsächlich, weniger Transferleistungen zu gewähren. Der moderne Sozialstaat ist für Merz in Zeiten sich mehrender, zuspitzender und überlappender Krisen kein Stützpfeiler unserer Demokratie, sondern „paternalistisch“, weil er „zur umfassenden Regulierung des gesamten Lebensalltags der Gesellschaft“ tendiere, was mit einem „massiven Griff in die Taschen der Bürger und insbesondere der sogenannten Besserverdienenden“ einhergehe (siehe S. 69). An die Stelle einer lückenlosen sozialen Sicherheit für alle Bürger/innen möchte Merz „Freiheit und Selbstverantwortung“ setzen.
Einerseits stören Merz die „konfiskatorische Abgabenbelastung“ sowie der „scharfe Progressionsverlauf bei den mittleren und oberen Einkommen“, welcher einschließlich des Solidaritätszuschlages und der Kirchensteuer zu einer Grenzbelastung von mehr als 50 Prozent führe (siehe S. 80 f.). Das oberste Ziel ist für Merz die Senkung der Steuer- und Abgabenlast. Ähnlich wie Donald Trump und Elon Musk in den USA würde Merz als Bundeskanzler den staatlichen Verwaltungsapparat – wohlgemerkt: nicht dessen harten Kern, also die Bundeswehr, die Geheimdienste und die Polizei – am liebsten massiv „verschlanken“ und die freigesetzten Geldmittel größtenteils in den Privatsektor umleiten: „Mit geringeren Staatsausgaben könnte die Belastung der Steuerzahler und der Beitragszahler erheblich gesenkt, die Fähigkeit zur Ersparnisbildung und die Kaufkraft großer Teile der Bevölkerung erhöht und zugleich die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte reduziert werden.“ (S. 87)
Andererseits sind Merz die Transferleistungen, von ihm als „Übertreibungen unseres Sozialstaats“ (S. 62) abqualifiziert, viel zu hoch. Sozialpolitik, die „zur reinen Gefälligkeitspolitik degeneriert“ sei, gehört zu den Stiefkindern des wirtschaftsfreundlichen und finanzmarktaffinen Merzschen Politikentwurfs. Auch fehlt dem Kanzlerkandidaten der Union das sozialpolitische Grundwissen eines gebildeten Durchschnittsbürgers, wenn er anlässlich der jüngsten Diskussionen über das Bürgergeld immer noch – genauso wie 15 Jahre vorher als Buchautor – in den staatlichen Transferleistungen, die wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende einkommensabhängig und bedarfsgeprüft gezahlt werden, ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ sieht.
Sozialpolitik, die „zur reinen Gefälligkeitspolitik degeneriert“ (S. 143) sei, gehört erkennbar zu den Stiefkindern des wirtschaftsfreundlichen und finanzmarktaffinen Merzschen Politikentwurfs. Auch fehlt dem Kanzlerkandidaten der Union das sozialpolitische Grundwissen eines gebildeten Durchschnittsbürgers, wenn er anlässlich der jüngsten Diskussionen über das Bürgergeld immer noch – genauso wie 15 Jahre vorher als Buchautor – in den staatlichen Transferleistungen, die wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende einkommensabhängig und bedarfsgeprüft gezahlt werden, ein bedingungsloses Grundeinkommen sieht (vgl. S. 173).
Freimütig bekennt sich Merz zu einer „Position des begrenzten Sozialstaats“, die der „Generationengerechtigkeit“ geschuldet sei. Mit diesem neoliberalen Kampfbegriff, der so tut, als verlaufe die soziale Scheidelinie in unserem Land nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Jung und Alt, begründet Merz, „dass neben der solidarischen Absicherung der großen, für den Einzelnen untragbaren Lebensrisiken mehr als eine materielle Grundsicherung für die wahrhaft Bedürftigen schlicht nicht finanzierbar ist – oder eben nur zulasten zukünftiger Generationen.“ (S. 33)
Merz reduziert Sozialpolitik im Wesentlichen auf die Schaffung günstigerer Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Gewährleistung von Geldwertstabilität für Leistungsberzieher/innen. Weil die vorherrschende „Technologiefeindlichkeit“ zur Abwanderung weiterer Leistungsträger ins Ausland führen könne, müsse sie genauso energisch bekämpft werden wie die Inflationsgefahr: „Neben stabilem Geld ist ein gutes Klima für die Erforschung, Entwicklung und Erzeugung neuer Produkte die beste Sozialpolitik.“ (S. 99) Als wenn sich Arme, Alte, sozial Benachteiligte, Kranke und Menschen mit Behinderungen – traditionell die Hauptadressat(inn)en einer guten Sozialpolitik – davon etwas kaufen könnten!
Kopfprämie statt Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung
Krankheiten sind für Merz, der im sozialen und im Gesundheitsbereich nur eine geringe Empathiefähigkeit erkennen lässt, in erster Linie ein volkswirtschaftliches Problem. Er plädiert für „einen „Systemwechsel hin zu einer privaten Krankenversicherung und privatem Wettbewerb der Leistungsanbieter“ (S. 165) statt für die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung, die das von Merz zu Recht als „nicht mehr zeitgemäß“ betrachtete „Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung“ (S. 156) zur Gegenseite hin auflösen würde, indem auch Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister/innen einbezogen würden.
Lieber favorisiert Merz „eine echte Versicherung“, worunter er versteht, dass ein Kapitalstock aufgebaut und der Beitrag „am individuellen Risiko“ kalkuliert wird. Beiträge sollen „nicht als Anteile vom Arbeitseinkommen“, sondern „nach versicherungsmathematischen Grundsätzen erhoben“ werden (siehe S. 163). Dieses unter dem Stichwort: „Kopfprämie“ firmierende Modell würde besonders jene Menschen teuer zu stehen kommen, die übergewichtig und/oder häufig krank sind. Umgekehrt kämen jene Menschen preiswerter davon, die ohnehin privilegiert sind, weil sie nicht schwer und unter schlechten Rahmenbedingungen arbeiten müssen.
Abfällig äußert sich Merz über die „Unterschichten“, denen er – in unzulässiger Weise pauschalierend – vorwirft, nicht genug auf ihre Gesundheit zu achten, was häufiger Adipositas und Diabetes II nach sich ziehe, wodurch ihr Risiko für Schlaganfälle, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Gicht, Krebs und andere Krankheiten wiederum drastisch steige. Deshalb sei „ein weiterer Abstieg der Unterschichten aus gesundheitlichen Gründen vorprogrammiert, wenn nicht einschneidende Maßnahmen ergriffen werden.“ (S. 161)
Demografie als soziale Demagogie: Rentenversicherung und Börsenrente
Aus der – wie im öffentlichen Diskurs üblich – stark dramatisierten demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft zieht Merz den (Fehl-)Schluss, dass alle Sozialversicherungszweige zur (stärkeren) Kapitaldeckung übergehen müssten. „Kapitaldeckung“ bedeutet Finanzmarktabhängigkeit, die zusätzliche Risiken in sich birgt. Merz benutzt die Demografie geschickt als Mittel der sozialen Demagogie und macht sich zunutze, dass in den Medien ständig kolportiert wird, demnächst müssten zwei Versicherte – viel weniger als früher – einen Rentner ernähren, was sie zweifellos überfordern müsste. Allerdings haben sozialversicherungspflichtig Beschäftigte noch nie einen Rentner ernährt, vielmehr werden die Renten wie alle Sozialleistungen aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung finanziert (sog. Mackenroth-Theorem), und zwar erst zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gezahlt werden müssen. „Sparen“ für die Zukunft gibt es volkswirtschaftlich nicht, obwohl der Euphemismus „Kapitaldeckung“ es suggeriert. Diese löst auch kein demografisches Problem: Wenn die Bevölkerung tatsächlich stark schrumpft und altert, sind zu wenige Junge da, um den „überhand nehmenden“ Alten ihre zahlreichen Aktien, Indexfondsanteile oder anderen Wertpapiere abzukaufen, die einen auskömmlichen Lebensabend ermöglichen sollen. Vielmehr würden die Kurse in den Keller rauschen.
Das große Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit auf ein kollektives Solidarsystem wie die Gesetzliche Rentenversicherung ist Merz suspekt. Da er lieber auf individuelle Altersvorsorge setzt, würde Merz am liebsten schon kleine Kinder für den Kauf von Aktien motivieren: „Der Staat muss durch seine Vorgaben auf das Problem zu geringer Alterseinkommen aufmerksam machen und auf eine entsprechende Kapitalbildung hinwirken. Wenn dies die Grundschüler (?!) schon bei der Anlage ihres ersten Sparbuches verstehen, dann ist für die Sicherung der Alterseinkommen mehr gewonnen als mit der besten und größten Rentenreform aller Zeiten.“ (S. 152 f.) Hier klingt bereits die „Frühstartrente“ im Bundestagswahlprogramm von CDU und CSU an, bei der jedes Kind ab dem 6. Lebensjahr vom Staat pro Monat 10 Euro in ein individuelles, privatwirtschaftlich organisiertes Depot eingezahlt bekommen soll, um frühzeitig für das Alter vorzusorgen.
Zu Merzens Leidwesen hält sich die Begeisterung der Menschen für den Aktienkauf und den Kapitalmarkt hierzulande bisher in Grenzen. Daher mokiert sich ein Multimillionär, der Merz vielleicht damals auch schon war, über „das unter uns Deutschen sehr ausgeprägte Sicherheitsdenken und unseren unterentwickelten Sinn für unternehmerisches Risiko, die dazu führen, dass wir unser privates Vermögen traditionell entweder gar nicht oder nur sehr zögerlich am Kapitalmarkt investieren.“ (S. 150) Geht’s eigentlich noch? 40 Prozent der Bevölkerung haben überhaupt kein nennenswertes Vermögen, aber zu Recht die Befürchtung, durch Börsengeschäfte bei einem Finanzcrash auch noch ihr letztes Erspartes zu verlieren.
Dem stellt Merz lobend die Mentalität des normalen US-Bürgers gegenüber, der „immer die Entwicklung der Aktienmärkte im Blick“ habe, weil „seine Altersversorgung zu einem erheblichen Teil von den Aktienkursen abhängt.“ (S. 149) So wünscht sich Merz auch den deutschen Arbeitnehmer – täglich „Wirtschaft vor acht“ im Fernsehen schauend und blind der Börse vertrauend, wenn es um die Bekämpfung der wachsenden Altersarmut geht. Und im Pflegeheim ist weitere Verbleib des Rentners womöglich auch vom Stand des Dax abhängig …
Wenn man Aktienbesitzer und somit eigene Wählerschichten reicher machen kann, hört für Merz auch die bürgerliche (Entscheidungs-)Freiheit auf, der er sonst häufig das Wort redet. Plötzlich ist die Bevormundung der Arbeitnehmer/innen durch den Staat sogar ausdrücklich erwünscht: „Man sollte grundsätzlich alle Beschäftigten gesetzlich verpflichten, ein Mindestmaß an Altersvorsorge durch eigene Mittel frühzeitig zu beginnen.“ (S. 148) Als wäre die Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge von Beschäftigten nicht ebenfalls „Altersvorsorge durch eigene Mittel“, zu der Arbeitgeber allerdings – im Unterschied zur Merzschen Privatvorsorge – ihren Teil beitragen müssen!
Teil I: Gerechtigkeit trotz wachsender sozialer Ungleichheit?
Teil III: Privat vor Staat auch im Bildungsbereich
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.
Bildquelle: Pixabay