Die Stichwahl bleibt. Wenn in Nordrhein-Westfalen im kommenden September die Bürgermeister und Landräte gewählt werden, genügt nicht die einfache Mehrheit zur Wahl. Die von der schwarz-gelben Koalition im Landtag beschlossene Abschaffung der Stichwahl ist verfassungswidrig und damit nichtig. (Aktenzeichen: VerfGH 35/19)
Der Verfassungsgerichtshof in Münster hat entschieden, dass die Abschaffung der Stichwahlen gegen Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats verstößt. Mit der Landesverfassung vereinbar ist hingegen die Neuregelung zur Größe der Wahlbezirke für die Wahlen zu den Räten und Kreistagen. Allerdings formuliert das Gericht auch dazu Grenzen allzu weitgehender Beliebigkeit.
Die Opposition wertete die Entscheidung als „verheerende Niederlage“ und „schallende Ohrfeige“ für die Regierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Und tatsächlich wirft die Urteilsbegründung dem Gesetzgeber schwere Versäumnisse vor. Er habe weder die zunehmende Zersplitterung der Parteienlandschaft in den Blick genommen, noch warnende Hinweise im Gesetzgebungsprozess beachtet, führte die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Ricarda Brandts, aus.
Mehrere Rechts- und Politikwissenschaftler hatten sich in der Anhörung des Landtags gegen die Abschaffung der Stichwahl ausgesprochen. Der Jurist Professor Dr. Martin Morlok beispielsweise warnte vor einem „erheblichen Demokratieproblem“ und einer „Perversion der Mehrheitsentscheidung“ zugunsten einer Minderheitsentscheidung. Das hätte jedes Mal dann gedroht, wenn zur Direktwahl eines Hauptverwaltungsbeamten mehr als zwei Kandidaten antreten. Mit der wachsenden Parteienvielfalt wird genau das auch nach Auffassung des Gerichts zunehmen, so dass in einer wachsenden Zahl von Fällen die einfache Mehrheit erheblich von der absoluten Mehrheit entfernt wäre. Im Extremfall würde eine Person ins Amt gewählt, die drei Viertel der Wähler gegen sich hat.
Den Regierungsparteien CDU und FDP war die Abschaffung der Stichwahl als parteipolitisch motiviert ausgelegt worden. Insbesondere der CDU sei es nur um die besseren Wahlchancen der eigenen Kandidaten gegangen, kritisierte die Opposition. 2014 hatte in der Landeshauptstadt Düsseldorf Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) die Stichwahl gegen Dirk Elbers von der CDU gewonnen, und Düsseldorf war nicht die einzige Stadt, in der die CDU in der Stichwahl scheiterte.
Das ärgerte die Christdemokraten und spornte sie wohl zu der Gesetzesänderung zu ihren Gunsten an. Warum allerdings der kleine Koalitionspartner sich dafür hergab, war von Anfang an rätselhaft. Erst 2011 hatte auf eine rot-grüne Initiative hin eine breite Mehrheit im NRW-Landtag für die Wiedereinführung der Stichwahl gestimmt, einschließlich der FDP. Der Schutz vor Wahlerfolgen von Extremisten und eine solide demokratische Legitimation waren zentrale Argumente.
Vor zehn Jahren noch hatte das höchste NRW-Gericht den Verzicht auf die Stichwahl gebilligt, doch hat sich seither die Parteienlandschaft weiter verändert. Zunehmend treten kleinere Parteien auf die kommunalpolitische Bühne, und genau diese Entwicklung hatte der Verfassungsgerichtshof im Blick, als er 2009 dem Gesetzgeber eine permanente Prüfung der Legitimationsfrage auftrug. Der damalige Präsident des Gerichts, Michael Bertrams, hatte die amtierende schwarz-gelbe Koalition davor gewarnt, diesem Hinweis zuwider zu handeln – vergebens.
Im Schatten der Stichwahl-Abschaffung haben CDU und FDP eine weitere Reform ausgeheckt, die nun den Segen aus Münster erhielt. Die kommunalen Wahlkreise werden nicht mehr an der Einwohnerzahl, sondern an der Zahl der Wahlberechtigten bemessen, das sind bei Kommunalwahlen nur Deutsche und EU-Bürger. Allerdings mahnte das Gericht, die bei der Einteilung der Wahlbezirke zulässigen Abweichungen von bis zu 25 Prozent sehr zurückhaltend anzuwenden und in der Regel nicht über 15 Prozent hinaus zu gehen.
Während in dieser Hinsicht Einigkeit im Richterkollegium herrschte, legten zur Stichwahl-Frage drei der sieben Richter eine abweichende Meinung in einem Sondervotum nieder. Sie sind nach Darstellung des Gerichts der Ansicht, dass die Entscheidung dem Zustimmungsgrad gegenüber der Wahlbeteiligung eine zu große Bedeutung beimesse. Die Abschaffung der Stichwahl war in der Landtagskoalition unter anderem mit dem Hinweis auf die oft geringere Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang und die hohen Kosten begründet worden. Zwei Argumente, die nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs nicht stichhaltig sind.
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