Es ist eine Herausforderung, die wir in dem Maße nicht kannten, aber es ist nicht wie im Krieg und auch nicht wie nach dem Krieg. Man lese nach, was seit Wochen in manchen Zeitungen steht über das Ende des Zweiten Weltkriegs, über den letzten Kampf der Nazis, über die Bilder, die sich den vorrückenden Amerikanern boten, zum Beispiel von aufgehängten Soldaten an Bäumen, ermordet von Hitlers übriggebliebenen Kriminellen. Die jetzige Lage ist anders, sie kann schlimm werden, dazu muss man nur die Nachrichten aus Italien hören und hinhören, wie wir uns auf das, was kommen kann, vorbereiten. Vieles ist möglich in der Pandemie, die die Welt beherrscht, und die Politikerinnen braucht wie Angela Merkel, die die Nerven bewahrt. Corona ist eine Gefahr, die Angst auslöst und Druck. Wie lange noch, was wird mit mir, mit meiner Familie, den Kindern, den Jobs, wie wird die Welt nachher aussehen?
Die Kanzlerin scheint den Druck zu spüren, der von Kreisen der Wirtschaft aufgebaut wird, und versucht die Gemüter zu beruhigen. Sie bittet ihre Landsleute um Geduld, weil die Corona-Epidemie dauern werde und man die Beschränkungen von Freiheitsrechten nicht so schnell wieder abbauen könne. Aber, so hört man aus der Wirtschaft, es müsse was passieren, es dürfe nicht wochenlang so weitergehen, dann gehe die Wirtschaft der Republik vor die Hunde. Bundesinnenminister Horst Seehofer hält dagegen: der Schutz der Menschen sei alternativlos. Da kommt was auf uns zu, wie Seehofer mit seinen Formulierungen andeutete: die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen unter Inkaufnahme von vielen Toten scheide für ihn aus. „Nicht mit mir!“ So der Minister. Es eine Illusion zu glauben, so hat er es gesagt, man könne ein Virus schrittweise steuern, sodass nur die 90-Jährigen oder 80-Jährigen oder 70-Jährigen betroffen seien.
Die Debatte um eine Exit-Strategie könnte an die Wurzeln unserer Gesellschaft gehen. Von wegen Solidarität, von wegen die Jungen helfen den Alten, die Gesunden den Kranken, die Reichen den Armen. Wenn man Trumps America first zu uns überträgt, könnte daraus ein übersteigerter Egoismus werden. Rette sich, wer kann. Wie hatte sich noch gerade die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie, Hildegard Müller, die früher im Kanzleramt tätig war, positioniert: „Wir können das öffentliche Leben in Deutschland und die Produktion der Industrie nicht über viele Monate vollkommen runterfahren und zum Stillstand bringen.“ Dieser Stillstand ist gerade ein paar Tage alt. Rückkehr zur Normalität, wie soll das gehen, der Ausnahmezustand hierzulande hat doch erst angefangen. Und doch war aus dem Mund von Gesundheitsminister Jens Spahn zu hören, dass man vielleicht stufenweise wieder zurückkehre in den Alltag, die Älteren würde man bitten, weiter zu Hause zu bleiben. Dann ist da die Rede von der Ruhe vor dem Sturm, weil die Epidemie hier erst im Anfangsstadium sei, die Zahlen würden steigen, sowohl die der Infizierten wie der Toten.
Wenn es zu einer Auslese kommt
Zu hören war dieser Tage mehrfach der Begriff „Triage“. Im Duden steht dazu, Ausschuss bei Kaffeebohnen. Triage wurde in den letzten Tagen mehrfach im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie genannt. Kurz gesagt: Im Notfall müssen Infizierte klinisch versorgt werden. Und wenn die Zahl der Patienten derart steigt, das es an Beatmungsgeräten fehlt, müsste ausgewählt werden, wer ein solches lebensrettendes Gerät bekommt und wer nicht. Könnte bedeuten Auslese nach einem Motto, das ich hier nicht weiter erklären möchte, weil es unanständig ist, menschenunwürdig. Diese Situation haben wir in Deutschland bisher nicht, sie soll mit allen Mitteln verhindert werden. Deshalb sollen die Menschen zu Hause bleiben, wenn es irgendwie geht, soll der soziale Kontakt, über den das Virus übertragen werden kann, möglichst vermieden werden, damit die Zahlen langsam ansteigen und das Gesundheitssystem nicht überfordert wird.
Das System Triage stammt aus dem Militärischen. Es wurde 1787 erstmals im „Königlich-Preußischen Feldlazarett-Reglement“ erwähnt. Gemeint ist die Einteilung von Verwundeten nach Schweregrad. Das französische Verb „trier“ heißt auf deutsch aussortieren, aussuchen. Es ist eine Frage von großer ethischer Bedeutung, wenn darüber zu entscheiden ist, wie knappe personelle und materielle Ressourcen aufzuteilen sind. Bei Schiffsuntergängen, so lese ich bei Wikipedia, galt zeitweise die Regel: Frauen und Kinder zuerst. Im Krieg galt die Faustregel: Zuerst werden die eigenen Soldaten versorgt vor den Zivilisten und dann waren erst die feindlichen Soldaten an der Reihe.
Nein, wir sind weit von italienischen Verhältnissen entfernt. Wer die Reportage in der SZ über die Zustände in Bergamo gelesen hat mit dem Titel „Zona nera“, kann nur hoffen und beten, dass es bei uns nicht so weit kommt. Die Todkranken gehen, heißt es da, ohne beweint zu werden, ohne letzte Küsse, ohne Bestattung. Die Toten werden ohne Kleider in Plastiksäcke gehüllt, in Holzsärge gelegt und wenn auf den Friedhöfen kein Platz mehr ist, kommt die Armee und fährt die Toten auf LKW fort. Herzzerreißend ist das, was der Italien-Korrespondent schildert. „Für ein Volk wie das italienische, das seine Alten ehrt, das ihnen die Erziehung überlässt, das sein ganzes Gesellschaftsmodell, seine Familien auf ihnen aufbaut, ist diese Pandemie eine doppelte Prüfung.“
Die Menschen beschäftigt die ängstliche Frage, ob sie selber infiziert werden könnten. Klar, sie sehen das Virus nicht, der Feind ist unsichtbar, aber man spürt, es braut sich was zusammen. Vielleicht wird deshalb hier und da gehamstert, werden Klorollen und Mehl aus den Regalen vieler Geschäfte gekauft, als gäbe es bald nichts mehr. Die Menschen nehmen -noch- ruhig in Kauf, das sie sich vor dem Edeka-Laden anstellen müssen, in einer Reihe, den 1,5-m-Abstand wahren, später werden sie eingelassen. Ein ähnliches Bild vor einer Drogerie. Unsicherheit ist zu spüren, aber auch Humor. Die Menschen erinnern sich, wie das früher war, als sie noch kein Geld hatten, und sie dennoch Ausflüge machten. Auch jetzt nehmen die Älteren eine Butterbrezl mit, Nudelsalat, der eine ein gekühles Kölsch, der andere ein Pils, gekühlt durch Eis-Pads, ein gekochtes Ei. Auf dem Rotweinwanderweg entdeckten wir Wanderer mit Rucksäcken, die eine Brotzeit dabei und sich ein kleines Fläschen Rotwein gekauft hatten. Die Kneipen sind zu, man muss sich zu helfen wissen. Abwarten, ob wir später, wenn alles wieder normal ist, zurückkehren in Wirtshäuser. Normal, wann soll das sein? Nach Ostern beginnt vielleicht der Schul-Unterricht, die Abiprüfungen finden statt. Aber wann das öffentliche Leben wieder einsetzt, wann alle wieder mit dem Auto zur Arbeit fahren, oder mit der Tram oder dem Bus, wann die Restaurants wieder öffnen, die Blumen- und die Buchläden?
Als Europa noch eine Gemeinschaft hieß
Aber nein, wir diskutieren nicht darüber, ob unsere Wirtschaft sich das alles leisten kann. Und schon gar nicht wird darüber debattiert, wie viele Alte zu opfern wären. Triage- das sollten wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte schon gar nicht anfangen, darüber nachzudenken, wer denn zuerst beatmet würde und wer nicht mehr, weil er eben zu alt und zu krank sei. Nein, diese Gesellschaft ist nicht so, dass sie den Nutzen der Wirtschaft über den des Lebens von Menschen setzen würde. Dagegen reden wir von Solidarität, die wir aber auch gegenüber Italien, Spanien und Frankreich in starkem Maße üben sollten. Ja, wir haben Schwerkranke aus diesen Ländern aufgenommen in Köln, Bonn und Bochum und anderswo. Europa lebt, es darf nicht nur in Euro denken. Manchmal fällt mir der alte Begriff der Europäischen Gemeinschaft ein, falsch ist das nicht, dass man mal wieder an Gemeinschaft denkt.
Eins noch. Wir reden viel von den neuen Heldinnen und Helden, gemeint neben den Ärzten die Krankenschwestern und Pfleger. Gerade las ich im Berliner Tagesspiegel das Interview mit einer Krankenschwester, die vor lauter Dienst rund um die Uhr nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Den Beifall von den Balkonen, sagte sie auf ihre drastische Art, könnten sich die Leute irgendwo reinschieben. Sie sollten lieber auf die Straße gehen und dafür demonstrieren, dass die Krankenschwestern und Pfleger nicht nur den warmen Händedruck der Politiker brauchen, sondern endlich mehr Geld. Eine gerechte Entlohnung. Es ist ein Skandal, dass wir vor rund zehn Jahren Milliarden und Milliarden ausgaben, um die Banken zu retten. Jetzt ist ein schweres Finanzpaket im Schweinsgalopp verabschiedet worden, auch um Firmen zu retten. Alles richtrig, aber: Warum Herr Bundesgesundheitsminister, Frau Kanzlerin, Herr Bundesfinanzminister und wie sie alle heißen, wird nicht endlich das Gehalt von Krankenschwestern und Pflegern so erhöht, dass sie den Eindruck gewinnen könnten: Endlich wird unsere Berufsgruppe geschätzt.
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