Nach der ersten Schreckensnachricht aus dem fernen Wuhan war der chinesische Corona- Ausbruch für mich in Berlin eine der vielen weit entfernten Katastrophen auf einer mannigfaltig gequälten Welt.
Als dann aber im Februar mit den ersten Aufbauten für die Berlinale, das Filmfestival mit der größten internationalen Besucherresonanz, richtig losgelegt wurde, beschlich mich angesichts der schnellen Ausbreitung der Infektionen in Asien und dem ersten Fall in Deutschland, ein immer stärkeres Unbehagen, dass es das neue Virus auch bald auf die Berlinale schaffen könnte.
Einschlag der Corona-Disruption
Die beruhigenden Versicherungen der Organisatoren, dass man bei der Hygiene alles notwendige gemacht habe und dazu vorbeugend intensiv aufkläre, kamen mir schon als Laie, angesichts der zu erwartenden Menschenmassen, so dürftig vor, dass mein Unbehagen noch stärker wurde. Nach dem offiziellen Festivalstart versuchte ich mich in der Stadt wie ein Slalomfahrer möglichst schnell und in Distanz durch die wie immer niesenden, schniefenden und hustenden Pulks der Festivalgemeinde zu schlängeln. Jeden Morgen schaute ich in mein Handy, ob das Festival wegen eines Corona-Ausbruchs abgebrochen werden müsste. Aber erst nachdem alles wie durch ein Wunder coronamäßig problemlos gut ging, wurde prompt ein Tag nach dem Festivalende, nämlich am 2. März der erste Berliner Infektionsfall bekannt. Die Corona-Disruption hatte auch in der Bundeshauptstadt eingeschlagen.
Das Fernsehwunder
Am gleichen Abend kramte ich sofort meinen kleinen Fernseher, den ich schon länger aus Überdruss am megalomanisch wuchernden Polit- Infotainment hinter einer Bettcouch verstaut hatte, hervor und zappte durch jeden Kanal, der über Corona berichtete. Nach der Schocker-Nachricht des Tages begann ein wochenlang anhaltendes Fernsehwunder. Der Informationsmüll sich ständig wiederholender Standardsätze und wie Gedichte aufgesagter Argumentationsrituale war plötzlich aus den meisten politischen Nachrichtenformaten und Talkshows verschwunden. Angesichts des jeden Einzelnen treffbaren Schreckens und der schwer kontrollierbaren, völlig unabsehbaren Gefahren und Schäden, die alle Kontinente überfielen, war die Politikinformation aus der kleinen Flimmerkiste viel weniger geschwätzig und taktisch. Sie wurde schlicht zu einer geradezu lebenswichtigen Informationsquelle für mich.
Handfeste Lebensberatung
Ich verschlang neben den tagsüber verfügbaren Infos aus dem Smartphone am späten Abend alle nationalen und internationalen Fernsehnachrichten, Pressekonferenzen und Diskussionspanels. Alles war für das Leben gesundheitlich, politisch und ökonomisch existenziell wichtig. Man bekam von qualifizierten ÄrztInnen, VirologInnen oder EpidemologInnen immer wieder präzise Tipps, wie man sich durch digitale Kommunikationsformate, gründlichere Waschtechniken, Nieß-Etiketten und konsequente Distanzstrategie möglichst das Virus von Rachen und Lunge fernhalten könnte. Dazu gab es ergänzend hilfreiche Hinweise auf bei dem Virus beliebte Orte und sogar hervorragende Tipps, wie man sein Immunsystem stärken könnte. Das waren alles ungeheuer wichtige Informationen, wie man sich Corona möglichst vom Leib halten könnte. Ganz einfach handfeste Lebensberatung.
Beeindruckende Ernsthaftigkeit
Die in Pressekonferenzen und Talkshows anwesenden PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen schilderten genauso präzise wie interessant den Stand der Pandemie und debattierten und analysierten gesundheitspolitische Gegenstrategien sowie existenziell wichtige wirtschaftliche Hilfsprogramme. Diese ungewohnte Sachlichkeit und beeindruckende Ernsthaftigkeit war eine Wohltat. Effekthascherei sowie Eitelkeiten tendierten gegen Null.
Revolutionärer Personalwechsel
Der personelle Wechsel im TV- Informationsangebot war geradezu revolutionär: Plötzlich dominierten wohltuend fachkundige, erfahrene und detailfeste Frauen und Männer aus Exekutive und Legislative und besprachen ganz sachlich Vor- und Nachteile der möglichen Strategien gegen die Pandemie. Die Wirkung und Problematik denkbarer Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sowie Vor-und Nachteile noch nie dagewesener Hilfsprogramme für wirtschaftlich Geschädigte wurden mit hoher Fachkompetenz konzentriert debattiert, wobei die in einer Demokratie kontroversen politischen Grundrichtungen keineswegs versteckt wurden.
Glücksfall Föderalismus
Und das am meisten Überraschende war dann auch noch, dass in der ersten Phase des Corona-Schocks dieser ernsthafte gesellschaftliche Diskurs parallel genauso sachlich auf den politischen Entscheidungsebenen geführt wurde. Dabei erwies sich in der Phase des Shutdowns, dass unser feingegliederter föderaler Staatsaufbau ein Glücksfall ist. Wir standen vor der größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg und die ungeheure Vielfalt gesetzgeberischer Maßnahmen und Hilfspakete wurde in diesem komplexen System nicht etwa monatelang zerredet oder parteipolitisch blockiert, sondern – auf regionale Besonderheiten abgestimmt – innerhalb weniger Tage von Bundestag und Bundesrat beschlossen, sowie anschließend in landespolitisch angepasste Rechtsnormen umgesetzt. Es ist meine feste Überzeugung: Kein zentralistisch organisierter Staat könnte ein derartig feingegliedertes und akzeptanzfähiges, sowie vor Ort praxisnahes Regelwerk zustande bringen. Und dies gilt auch noch selbst für die Einführung der sogenannten Community-Maske, deren holprige politische Durchsetzung nach dem heftig attackierten Meinungswechsel mancher Entscheidungsträger und Wissenschaftler jetzt, gestützt durch eine Basisbewegung aus Städten und Regionen heraus, doch noch zustande kam. Dieser konfliktreiche Prozess litt wohl am meisten darunter, dass manch wichtige Stimme aus Politik und Wissenschaft schlicht nicht etwas verbindlich empfehlen wollte, wozu das benötigte Material fehlte.
Angela Merkel in Spitzenform
Auch nach der kontroversen Debatte im Bundestag im Anschluss an die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und der heroischen Attacke des von der Bundeskanzlerin meinungsunterdrückten FDP- Vorsitzenden Christian Lindner wird es wohl so kommen, dass es Angela Merkel gelingen wird, das vorsichtige Herantasten einer Revitalisierung von wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Leben aus dem Shutdown heraus in einem breiten Konsens unseres Landes zu organisieren. Dazu war ihre klare Ansage und die offene Kritik an dem überbordenden Drang, in einem nicht hinreichend durchschaubaren Geflecht von Wirkungen, den Shutdown unter zu hohen Risiken zu lockern, nicht nur mit Blick auf die Gesundheit und Leben der Menschen, sondern gerade auch mit Blick auf eine erfolgreiche ökonomische Wiederbelebung wichtig und richtig. Die Kanzlerin läuft sichtlich in abgeklärter Reife zur Spitzenform auf. Gerade jetzt in der global schwierigsten politischen Krise der Nachkriegszeit sind Erfahrung und politisches Gewicht unverzichtbare Assets, auf die man eigentlich nicht verzichten kann. Sie sollten auch nach 2021 auf der internationalen Bühne genutzt werden.
Einmalige Chance zum neuen Aufbruch
Die Corona-Disruption kann dann, wenn ein Rückschlag vermieden wird, die Chance öffnen, eine Revitalisierung unserer Gesellschaft unter Aufbrechen längst überholter und schädlicher Strukturen, neuen digitalisierten Lösungen zu einem humanen Leben und Arbeiten in Versöhnung unserer Marktwirtschaft mit den natürlichen Lebensgrundlagen und mit einer gerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen über einen langfristig angelegten Lastenausgleich zu organisieren. Wir haben in den letzten Wochen den Mut zu Maßnahmen gehabt, die wir uns vor Corona niemals selbst zugetraut hätten. Wir haben damit jetzt die einmalige Chance zu einem längst überfälligen neuen Aufbruch.
Virus und Macht
Die Corona-Disruption wird in der Berliner Republik auch zu einem politischen Strukturbruch über die nächsten Bundestagswahlen in 2021 hinaus führen. Die wahlpolitisch nur vom Protest gegen die Politik der etablierten Parteien lebenden Rechtspopulisten werden massiv verlieren und in den einstelligen Bereich zurückfallen. Die in Regierungsverantwortung stehenden Parteien in Bund und Ländern können mit Fortsetzung seriöser Lösungskompetenz angesichts der Krise auch neues Ansehen und Stärke gewinnen.
- Die Union könnte sogar bei ihrem demoskopischen Höhenflug die Standard-Prognose der Analysten vom Ende der Volksparteien mit einem Zuwachs in Richtung auf die 40-Prozent-Marke widerlegen. Wobei die mediale Konkurrenz zwischen Armin Laschet und Markus Söder sogar eine Win-Win-Situation sein könnte.
- Die SPD hat sich zwar wieder etwas stabilisiert und könnte durchaus diese Tendenz bald in Richtung auf die 20-Prozent-Marke hin verstärken. Dies aber nur wenn große Teile ihrer Funktionärsbasis nicht weiter die erfolgreichsten Köpfe in der Regierung, wie Olaf Scholz oder Hubertus Heil mit einer gerade jetzt in der Krise hervorragenden Arbeit – nicht schon aufgrund des schieren Erfolgs argwöhnisch beäugt. Populäre Politik muss nicht in jedem Fall antiprogressiv sein.
- Die Grünen werden als regional schon weit präsente Regierungspartei mit der zentralen Klimafrage weiterhin punkten, aber jetzt zweifelsohne abrupt relativiert durch die von der Corona-Krise in den Mittelpunkt der politischen Zukunftsbewältigung katapultierten anderen Themen: Digitales Arbeiten, Gesundheitspolitik, Verteilungsgerechtigkeit, Stabilisierung und Selbstbehauptung Europas in der Globalisierung. Die grüne Kanzlerschaft wird beim Schrammen der Partei um die 20-Prozent-Marke selbst angesichts des zu den neuen sozialen Milieus gut passenden Führungstandems Annalena Baerbock und Robert Habeck im Bund absehbar ein Traum bleiben. Schwarz–Grün im Bund wäre aber 2021 keine Überraschung.
- Der heroische FDP-Rhetor Christian Lindner wird mit seiner One-Man-Show auch bei ständigem thematischem Hüpfen von Ast zu Ast Mühe haben, das nächste Mal nicht die 5-Prozent-Hürde zu reißen.
- Die zerstrittene Linke wird im Bund – nachdem sich die brillante und eigentlich mit ihrem hohen Ansehen unersetzbare Sarah Wagenknecht aus der ersten Reihe zurückzog – dagegen weiter als Hüterin des wahren Sozialismus selbstzufrieden und genügsam knapp bei 10 Prozent verharren.
Das Virus ist also nicht nur ein universaler Schrecken. Es kann auch politische Machtstrukturen verschieben. Nicht nur bei uns und in ganz Europa, sondern auch im Herbst in den USA.
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