„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist“, beginnt ein Zitat von Martin Niemöller, der Häftling war im KZ Dachau. „Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als die die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte.“ Und vieles von dem, was passierte, geschah vor aller Augen, die Reichspogromnacht am 9. November 1938, als viele Deutsche tatenlos zuschauten, wie die Nazis überall im Reich Synagogen in Brand setzten, die Geschäfte zertrümmerten und plündern ließen. Und als sie die Juden holten, schauten manche weg. Allein 11000 Juden wurden nach dem Pogrom ins KZ Dachau verschleppt, eines der ersten Konzentrationslager, das die Nazis bauen ließen, um Kommunisten und Sozialdemokraten, Juden, Menschen, die sie zu Asozialen erklärten, Homosexuelle, Sinti und Roma, Ausländer einzusperren, in Schutzhaft zu nehmen, wie sie das nannten. Ein Hohn.
Es war die größte Pogromwelle, die Deutschland seit den Morden an Juden im Mittelalter während der Pestzeit-zwischen 1348 und 1350- erlebte. Die Zahlen schwanken, folgt man dem angesehenen Historiker Heinrich August Winkler, wurden 267 jüdische Gotteshäuser zerstört und 7500 jüdische Geschäfte verwüstet, mindestens 91 Menschen wurden ermordet , Hunderte begingen Selbstmord oder starben als Folge der Misshandlungen in den Konzentrationslagern Dachau oder Sachsenhausen. Ein Attentat, das der polnische Jude Herrschel Grynszpan am 7. November 1938 am Ersten Sekretär der deutschen Botschaft in Paris, Ernst von Rath, verübt hatte, diente den Nazis als willkommener Anlass, gegen die Juden loszuschlagen. Dabei konnte damals jeder, wie man bei Augenzeugen nachlesen kann, seit Tagen spüren, wie die Nazis die Stimmung gegen die Juden anheizten. So mussten sie ihre Pässe abgeben, ihr Vermögen benennen, Juden wurde die ärztliche Zulassung entzogen, auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte malten Nazis das Wort „Jude“ und den Davidstern. Der Druck auf Juden wurde erhöht, sie zur Auswanderung zu zwingen. Am 12. November, wenige Tage nach den Anschlägen, ordnete Josef Goebbels an, dass die Juden eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark dafür hinlegen müssten, um die Kosten für die Wiederherstellung ihrer zuvor von der SS und der SA zertrümmerten Geschäfte zu tragen. Später folgten dann weitere Schritte zur Arisierung jüdischen Besitzes, auf deutsch Zwangsenteignung. Immer mehr wurden sie ihrer Rechte und Freiheiten beraubt , wurden sie zu einer Art Freiwild.
Prügel- und Todesstrafe
Das KZ Dachau war das erste staatliche KZ, das die Nazis schon am 22. März 1933 einrichten ließen, wenige Monate nach dem Reichstagsbrand. Dachau diente als Vorbild für alle anderen KZ, die folgen sollten. Der Terror, der in Dachau verübt wurde, war systematisch und zielbewusst organisiert. Schon fünf Wochen nach der Gründung ließ die Lagerleitung am 12. April 1933 vier jüdische Häftlinge unter dem Vorwand ermorden, sie hätten einen Fluchtversuch unternommen. Der damalige Münchner Polizeipräsident Heinrich Himmler sorgte dafür, dass Willkür an die Stelle von Recht und Gesetz gerückt wurde, dass der Lagerkommandant, der berüchtigte Theodor Eicke, ausgestattet wurde mit Zuständigkeiten, die ihm alle Rechte in die Hände gaben, von der Prügel- bis zur Todesstrafe. So sah das die sogenannte „Disziplinär- und Strafordnung “ Eickes vor. Da stand zum Beispiel zu lesen, dass der Häftling „kraft revolutionären Rechts als Aufwiegler aufgehängt“ oder als „Meuterer auf der Stelle erschossen oder nachträglich aufgehängt“ werden konnte. Grausamkeit, Missachtung und Hass, das war der Inhalt der Schule des Lagerkommandanten Eicke. Die Konzentrationslager wurden zum Bestandteil der terroristischen Gewalt, bürgerliche Rechte waren ausgesetzt . Was Himmler sagte, war Gesetz. Die berüchtigte Dachauer Lagerordnung wurde in allen anderen KZ durchgesetzt.
Der Besucher der KZ-Gedenkstätte kann heute durch die weiträumige Anlage bummeln, er kann dies allein tun oder sich einer Führung anschließen, die es in mehreren Sprachen gibt, und die von kompetenten zumeist jungen Menschen, oft Historikern geleitet werden. Eine solche Führung lohnt sich, man wird gut und verständlich informiert und kann sich dabei umschauen, im Bunker, wo die Häftlinge einst gequält wurden-wegen Nichtigkeiten, oder sich das Mahnmal anschauen, oder überhaupt das riesige Gelände, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Die Gedenkstätte ist täglich zwischen 9 und 17 Uhr geöffnet. Pro Jahr besuchen weit über 800000 Menschen aus aller Welt die Gedenkstätte. Als wir uns führen ließen, waren es zumeist junge Japaner, Amerikaner, Franzosen, Chinesen, Deutsche, Familien mit Kindern. Um das auch zu betonen: Dachau ist kein Sommerspaziergang, dazu ist das Thema zu schwer.
Es war kein Vernichtungslager
Nein, Dachau war kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka. Aber wer nach Dachau kam, durchlebte, wenn er es denn schaffte, die Hölle. Zur Begrüßung wurde der Häftling mit einem Ochsenziemer, der zusätzlich mit einem Draht befestigt war, verprügelt. Von 200000 Häftlingen aus allen Teilen Europas, die nach Dachau oder in die Außenlager deportiert und dort gequält, beraubt und ausgebeutet wurden, starben 40000 Häftlinge unter der Gewalt, sie starben, weil sie zu wenig oder gar nichts zu essen kriegten, sie starben an Erschöpfung, weil man sie arbeiten ließ, ohne Rücksicht auf Verluste, sie krepierten an den medizinischen Versuchen, die Ärzte vornahmen, um irgendwas an lebenden Menschen auszuprobieren. Sie starben an Seuchen.
Über Dachau berichtete die Tagespresse. Wer wollte, erfuhr, was dort im KZ mit den Menschen geschah. Wobei die Presse den Ort des Schreckens teils als Ort der Ordnung und Gerechtigkeit beschrieb und gleichzeitig betonte, dass die Belegschaft im KZ Dachau aus „anthropologischen Bastarden“ bestand, die endgültig aus der deutschen Gesellschaft entfernt werden müsse. Besuchergruppen auch aus dem Ausland wurde dagegen von „jüdischer Greuelpropaganda“ berichtet.
Das Volk wusste von Dachau. Es kursierte nicht nur in Bayern der Satz: Wenn Du nicht aufpasst, wenn Du was Falsches, gemeint Kritisches sagst über die Nazis, kommst du nach Dachau. Die Häftlinge wurden oft mit Zügen zum Bahnhof Dachau transportiert und mussten von dort zu Fuß in Reih und Glied zum KZ marschieren. Vor den Augen der Zivilbevölkerung. Und es konnte passieren, dass die Häftlinge beschimpft, dass sie angespuckt wurden.
Erst Nazi, dann Widerstandskämpfer
Martin Niemöller war einer der Häftlinge. Er war zunächst ein Anhänger der NSDAP und des Führerstaates wie so viele andere, aber der evangelische Theologe aus Lippstadt wurde Mitglied der Bekennenden Kirche und zum Widerstandskämpfer. So wandte er sich, immer noch Mitglied der NSDAP, mit Hunderten anderen Pfarrern gegen verbale Angriffe Alfred Rosenbergs, des Chefideologen der Nazis, was 1935 zu seiner ersten Verhaftung führte. Niemöller teilte damals wie manche andere den Antisemitismus der Konservativen, wollte aber nicht, dass man Maßnahmen gegen Juden ergreifen sollte. 1938 kam er zunächst ins KZ Sachsenhausen, 1941 wurde er nach Dachau verlegt, wo er auf eine ganze Reihe von Theologen aus Deutschland, Österreich und den besetzten Nachbarstaaten traf. 1945 wurde Niemöller von Amerikanern befreit. Später wurde Niemöller Mitarbeiter am Stuttgarter Schuldbekenntnis.
Verhaftet und nach Dachau deportiert wurde auch der SPD-Politiker Kurt Schumacher, nach dem Krieg erster Vorsitzender der Sozialdemokratie. Schumacher gehörte der SPD schon 1933 an, als SPD-Chef Otto Wels seine berühmte Rede gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers hielt: „Freiheit und Leben kann man nehmen, die Ehre nicht“. An dieser Rede hat Schumacher mitgewirkt. Er wurde noch im Jahre 1933 verhaftet und war über einen Zeitraum von neun Jahren Häftling in den KZ Heuberg, Ulm, dann Dachau und zeitweilig in Flossenbürg.
Auch der SPD-Politiker Josef Felder, wie Schumacher Mitglied der SPD-Fraktion im Reichstag, wurde wegen seiner Parteizugehörigkeit nach Dachau deportiert. Felder stammte aus Augsburg. Er floh zunächst nach Österreich und dann in die Tschechoslowakei und wurde 1934 verhaftet und in Dachau eingesperrt. Willy Bogner Senior, Chef der Mode- und Sportartikelfirma in München, der mit Felders Bruder befreundet war, forderte Josef Felder als Arbeiter an und so kam der SPD-Mann wieder frei. Felder wurde nach dem Krieg zunächst Verleger und später Bundestagsabgeordneter der SPD.
Als Landauer verhaftet wurde
Schon am 10. November 1938 wurde der jüdische Kaufmann Kurt Landauer von den Nazis verhaftet, er war der Mann, der den FC Bayern München erfand, wie es der Buch-Autor Dirk Kämper in seiner feinen Biographie über Kurt Landauer beschrieben hat. Landauer schien die Ereignisse geahnt zu haben, so verkaufte er Ende 1937 gemeinsam mit seinem Bruder Franz für 2,2 Millionen Reichsmark das Haus der Familie an der Kaufingerstraße an die Warenhauskette Woolworth. Damit konnte Landauer die Schulden auf dem Haus in Höhe von 2,1 Millionen Reichsmark abtragen. Er entging damit der Enteignung durch die Nazis und hatte noch 100000 Reichsmark in der Tasche, Geld, das er später dringend brauchte.
Landauer schildert in dem Buch von Kämper die Brutalität von Dachau. Mit Schlägen wurden sie durch das Gelände des KZ getrieben, dann sechs Stunden Stehen in der Kälte, Mäntel ausziehen, Haare werden rasiert, Registrierung. Er bekommt zwei Stoffstreifen mit der Häftlingsnummer: 20029. „Alles ausziehen, hopp, Judensau!“. Nackt unter die Dusche, erst kochend heiß, dann eiskalt, wer schreit, bekommt Schläge. Dann wieder Stehen auf dem Appellplatz bei Eiseskälte. Misshandlungen, Schikanen, Landauer sieht, wie Menschen sterben. Wörtlich zitiert Kämper Landauer: Dachau ist schlimmer als alles, was er je im Krieg erlebt hat.
Alois Hundhammer, Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei im Bayerischen Landtag, wurde für einen Monat ins KZ Dachau verschleppt. Nach 1945 gehörte Hundhammer zu den Gründern der CSU. 1959 übernahm er den Vorsitz des Kuratoriums für die Errichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau. Was gar nicht so einfach war. Vergessen und Verdrängen war der Wunsch vieler Deutscher. So forderte der damalige Landrat von Dachau, der CSU-Politiker Heinrich Junker, die Schließung des ehemaligen Krematoriums im ehemaligen KZ-Lager Dachau für den öffentlichen Besuch. Junker begründete seinen Antrag im bayerischen Landtag damit, man solle die weitere „Propaganda“, in diesem Krematorium seien Opfer des Nationalsozialismus „vergast oder lebendig verbrannt worden“, unterbinden. Es passt ins Bild der Nachkriegszeit, dass die Bayerische Flüchtlingsverwaltung das ehemalige Häftlingslager in eine Wohnsiedlung für Flüchtlinge und Vertriebene umbauen ließ. Das Flüchtlingslager bestand 20 Jahre und hatte eine eigene Infrastruktur. Sicher, die katastrophale Wohnungsnot nach 1945 verlangte auch nach solchen Maßnahmen, aber sie entsprach auch der vorherrschenden Tendenz, die Geschichte dieses Ortes des Schreckens möglichst ruhen zu lassen.
Leichenberge auf den Wagen
Dabei war es schlimm, was sich den Befreiern geboten hatte, Bilder, die sie nie vergessen werden. So schildert der Leutnant Bill Bowling seiner Familie, was er am 28. April 1945 gesehen hatte: „Als wir die Schienen überquerten und zurück in die Wagen schauten, bot sich uns das schrecklichste Bild, das ich jemals gesehen hatte. Die Wagen waren voll mit Leichen. Die meisten waren nackt, alle bestanden nur aus Haut und Knochen.. Viele hatten Schußlöcher im Hinterkopf. Uns wurde speiübel, wir konnten aber nichts tun als unsere Fäuste zu ballen…“ Und am 3. Mai mussten Dachauer Bürger auf Befehl des US-Militärs das Krematorium und die Leichenberge besichtigen. Nachzulesen ist das in einem Dokumentationsbuch über das „Konzentrationslager Dachau 1933 bis 1945.“
Vergessen nie. Damit es sich nicht wiederholt. Gedenkstätten, so das Urteil des Historikers Wolfgang Benz, seien aber keine Reparaturwerkstätten für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Sie könnten nur durch Augenschein vermittelte Denkanstöße geben, die an anderem Ort verfolgt werden müssten. Und wörtlich sagt Benz: „Die historische Stätte Dachau gehört zum Erbe der Nation und ist als Ort, an dem der Zivilisationsbruch begann, über die lokale und nationale Erinnerung von Bedeutung: Die KZ-Gedenkstätte ist Bestandteil unserer politischen Kultur, als Raum der Selbstvergewisserung, als Lernort, als Begegnungsstätte und nicht zuletzt als Platz, der Frieden stiftet.“
Quellen:
Konzentrationslager Dachau 1933 bis 1945. München 2005. 228 Seiten.
Dirk Kämper: Kurt Landauer. orell füssli Verlag. Zürich 2014.
Bildquelle: Walter Schmied