In Deutschland gibt´s mehr als 600 000 Vereine. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein(aus dem aktuellen ZiviZ-Survey, durchgeführt von ZiviZ, der Zivilgesellschaft in Zahlen). Vereine haben Satzungen, Zwecke, Ziele, Vorstände, Vorsitzende, Beisitzer und Kassierer sowie Wahlen. Parteien sind strenggenommen auch Vereine, also privatrechtliche Vereinigungen. Sie müssen aber allerlei Bedingungen erfüllen, damit sie als politische Parteien anerkannt werden; sie müssen ernsthafte Zwecke verfolgen, langfristig angelegt sein und natürlich nach demokratischen Maßstäben funktionieren. Es ist freilich nirgendwo als Norm festgehalten, was ein Vereins- oder Parteivorsitzender im Einzelnen können sollte.
Zurzeit sucht die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vorsitzende; zwei an der Zahl, eine Frau und einen Mann. Auf 23 Foren stellen sich die jeweils antretenden Duos – Frau und Mann – der Parteiöffentlichkeit. Sieben „Pärchen“ kandidieren. Sie stellen sich mit ihren wichtigen Botschaften vor, stellen sich Parteimitgliedern, fassen am Schluss noch mal ihre „Messages“ zusammen. Das ist ein neues, aufwändiges Verfahren. Es gibt Tausenden die Chance, sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Ferner erhalten die Kandidierenden die Chance, sich im Laufe der 23-Termine Tour zu entwickeln, auf „Touren zu kommen“. Das erfordert Lernfähigkeit, Stehvermögen und auch Schlagfertigkeit. Am 29. September machte die Kandidaten- Tour in Troisdorf Halt, den Schluss bildet ein Forum am 12. Oktober in München.
Mehrere Foren hatte ich mir im Fernsehen beziehungsweise per Livestream angeschaut. Bevor ich dem Forum in Troisdorf folgte, hatte ich mir aus Presseschauen raus gesucht, was die Kandidatinnen und Kandidaten vor Beginn der Tour über sich und ihre Ambitionen erklärt hatten, und ob dabei bereits die kommende Konkurrenz eine Rolle spiele. Alles hielt sich in einem höflichen Rahmen: Verantwortung übernehmen, der Pflicht nicht ausweichen. Zwei „Wortmeldungen“ fielen aus dem Rahmen: Das war die Bemerkung der ausgeschiedenen Oberbürgermeisterin von Flensburg Simone Lange, es sei Frage der „politischen Hygiene“, dass Parteimitglied Scholz die Umstände seiner Kandidatur kläre. Und die Einschätzung des Kandidaten Professor Dr. Karl Lauterbach. Er sprach bereits vor Beginn der Tour von einem „Lagerwahlkampf“ in der SPD. Nun ist Lauterbach ein Plauderer. Hatte er doch am 20, November 17 dem Kölner Stadtanzeiger erklärt: „Es ist beinahe schon makaber mitanzusehen, wie rasch der Verfall der Kanzlerin fortgeschritten ist. Niemand traut ihr mehr zu, eine weitere Kanzlerschaft auszufüllen.“ Niemand? Die eigenen Leute offenbar schon.
Was fiel in Troisdorf auf?
Anfängliches Ungeschick ist weg. Zu Beginn wurde die eine oder andere Kandidatin vom Kandidaten untergebuttert. Er redete, sie hörte zu. Mittlerweile hat sich ein sehr respektables Miteinander durchgesetzt.
Die zweite Auffälligkeit: Obwohl die Unternehmen in Deutschland nach überwiegender Fachleute- Ansicht mindestens am Rand einer Rezession stehen, spielte die Ökonomie keine Rolle. „It´s the Oeconomy, stupid!“ – vergessen. In Troisdorf war das so. Die Weltwirtschaft war faktisch abwesend. Der einzige, der die Ökonomie als bestimmenden Faktor anklingen ließ, das war der Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Ist das Zufall oder gibt es unter den Spitzenleuten der SPD kaum noch jemanden, der den ökonomischen „Durchblick“ hat. Weltwirtschaft als Nebensache?
Auch die mühselige Schritt für Schritt-Politik des Bundesarbeitsministers, der im laufenden Jahr exzellente Arbeit leistet spielte keine Rolle. Das ist kein Zufall, weil einige, wie Hilde Mattheis und Dierk Hirschel, die SPD aus einer schwierigen Praxis hinaus in die strikte Re-Ideologisierung steuern möchten. Kennzeichnend war Hirschels Bemerkung, die Arbeitslosenversicherung sei in den zwanziger Jahren eingerichtet worden, um die Einspruchskraft der Arbeiterklasse zu stärken. Eine erstaunliche Umdeutung. Der erste Präsident der Reichsanstalt ab 1927 war der parteilose Friedrich Syrup, der 1938 gnadenlos den Arbeitseinsatz aller erwerbslosen Juden im Reich organisierte, bevor sie in die Vernichtungslager kamen.
Die Ämter des Finanzministers und des Vizekanzler sind für beträchtliche Teile der Parteiöffentlichkeit nichts, was in der Konkurrenz mit anderen einen Vorteil birgt. Parteifunktion und Arbeit in einem Verfassungsorgan wie die Bundesregierung sind nach Ansicht eines großen Teils (sofern Beifall als Beleg akzeptiert wird) strikt zu trennen. Entsprechende Forderungen wurden zum Beispiel neben anderen von Kampmann und Michael Roth dezidiert erhoben.
Nach meiner Auffassung ist das ein Rückfall auf eine Art „Reinheitsgebot“ in der Politik. Es ist kennzeichnend für ein kleinbürgerliches Misstrauen, das die SPD bereits 1966 hinter sich gelassen hatte.
Auffällig war auch, dass der Kandidat Boris Pistorius sich solche Trennung ebenso verbat wie das Schlechtreden der Verdienste früherer Spitzenleute. Ihm ging das „Sozi- Bashing“ des Duos Hilde Mattheis und Dierk Hirschel erkennbar auf die Nerven. Auch Pistorius bekam seinen Beifall für diese Äußerung.
Troisdorf belegt, dass es tiefe kulturelle Risse in der Sozialdemokratie gibt. Ursachen dieser Risse sind offene Positionen: Entweder zuerst das Land, dann die Partei oder zuerst die Partei und dann das Land.
Ferner und damit zusammenhängend spielt die Einstellung zu Kompromissen eine entscheidende Rolle. Sind Kompromisse zwischen verschiedenen Akteuren das Kennzeichen funktionierender Demokratie oder muss der Kompromiss stets und unübersehbar der eigenen Sache dienen. Ich könnte auch schreiben: ein Riss ergibt sich an der Frage, ob Reformpolitik als offener Prozess in der Zivilgesellschaft anzulegen ist oder als Aufgabe in ideologisch- historischer Mission.
Ich bin nicht sicher, wem ich meine Stimme gebe. Denn auf die Frage nach der Integrations-Kompetenz und nach den Führungsfähigkeiten geben Foren kaum Antworten. Erschrocken war ich ob der nahezu fanatischen Ablehnung der großen Koalition durch Karl Lauterbach. Offenkundig verfügt die SPD über manche an der heutigen Spitze, die auseinander jagen können. Ob sie auch zusammen zu führen vermögen, ist zweifelhaft. Die Anforderungen ans Spitzenpersonal werden jedenfalls nicht kleiner.
'Wählt eine bessere Partei. Ihr habt die gute nicht ergriffen (Friedrich von Schiller)' hat keine Kommentare
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