56,4 Prozent der Delegierten stimmten am Ende einer teils leidenschaftlichen Debatte für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen der SPD mit der Union. Ein mehr als knapper Sieg, wenn man das überhaupt positiv werten will. Denn immerhin warf sich die gesamte Führung der Partei, Vorstand und Präsidium, in die Bresche für eine mögliche GroKo, an der Spitze Martin Schulz, der Parteichef, der eine lange, aber sehr blasse Rede hielt, die die Delegierten nicht von der Stühlen riss. Der Beifall, ohnehin nicht berauschend, dauerte nur etwas mehr als 1 Minute. Juso-Chef Kühnert, der Anführer der Groko-Gegner, schürte dagegen die Emotionen mit seiner Argumentation gegen eine Fortsetzung des Weiter-So mit der Union. Es ging stundenlang hin und her, am ehesten konnte noch Fraktionschefin Andrea Nahles den Kongress für sich einnehmen, weil sie mit Feuer und Power in die Debatte ging und auf Nebenschauplätze wie das Absingen von Liedern verzichtete. Motto: Wir kämpfen, bis es quietscht auf der anderen Seite.
Auch DGB-Chef Rainer Hoffmann warb für die GroKo und viele andere Prominente. Am Ende bat Martin Schulz mit allem, was er aufzubieten hatte, für ein Votum pro GroKo. Er zitierte noch einen der Großen der früheren Jahre, den langjährigen NRW-Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten Johannes Rau, der gesagt habe: Lieber ein Prozent von Etwas als 100 Prozent von Nichts. Ein Vergleich, der angesichts der kräftigen Debatte in Bonn ziemlich unpassend wirkte, und der Schulz nicht half. 56,4 Prozent, das ist wenig genug und zeigt, wie gespalten die Partei ist nach dem Wahl-Desaster am 24. September letzten Jahres. Die Genossen gingen wohl lieber in die Opposition, um sich dort zu regenerieren, als in einer so genannten Großen Koalition mit Angela Merkel erneut Gefahr zu laufen, untergebuttert und später vom Wähler abgestraft zu werden. Als wenn das Erneuern in der Opposition leichter ginge! Glaubwürdiger wäre es nach all den Festlegungen der Monate davor.
Das Dilemma von Martin Schulz
Es war von Anfang an klar, dass die Parteiführung keinen überragenden Erfolg erzielen werde. Einige befürchteten gar, die Spitze der SPD werde in Bonn eine Katastrophe erleben, eine Schruppe, wie das ein Revier-Sozialdemokrat formulierte. Und der Verlauf der Debatte zeigte ja auch immer wieder das Dilemma von Martin Schulz. Er hatte noch am Wahlabend Ende September angesichts des schlechtesten Ergebnisses der SPD nach dem Krieg den Gang in die Opposition angekündigt und als weitere Begründung hinzugefügt, man wolle der rechtspopulistischen und in Teilen rechtsradikalen AfD nicht die Oppositionsführung überlassen. So weit so gut, alle Genossen waren begeistert. Aber als nach vielen Wochen die Jamaika-Verhandlungen gescheitert waren, hätte derselbe Schulz abwarten sollen und nicht gleich erneut das Nein zu einer Koalition mit der Union wiederholen dürfen. Es war schließlich eine neue Lage entstanden. Jamaika war auch gescheitert, weil Angela Merkel ganz offensichtlich die Verhandlungen mit den Grünen und der FDP an die Wand gefahren hatte. Der Ball lag eindeutig im Feld der CDU. Warum Schulz sich vordrängte, bleibt ein Rätsel und sein Fehler. Und überhaupt hätte er die Diskussion in der Union auch und gerade über Merkel nicht durch die SPD-Debatte übertönen dürfen. Denn Merkels Kanzlerzeit ist in der eigenen Partei nicht mehr ohne Zweifel.
Die Diskussion im Kongresszentrum in Bonn drehte sich immer wieder um die Frage: Wieviel hat die SPD, wieviel hat die SPD-Spitze bei den Sondierungen mit der CDU und der CSU herausgeholt? Hier was und da was, da ein Vorteil für Alte, da etwas für Arbeitnehmer, aber eben nicht der große Wurf, es fehlte ein Leuchtturm. Der Einstieg in die Bürgerversicherung wäre so etwas gewesen oder ein höherer Spitzensteuersatz, aber nichts davon. Stattdessen immerhin die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, heißt, der Beitrag wird künftig wie früher von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in gleicher Höhe bezahlt. Die geplante Grundrente ist, wenn verwirklicht, ein weiterer Schritt nach vorn, um für Alte den Absturz in die Altersarmut zu verhindern, mehr Kindergeld, mehr für die Pflege, die Bildung, die Schulen. Man kann noch manches aufzählen, was Schulz und Co für sich reklamieren könnten. Europa zum Beispiel, da zeichnet sich manches ab, was der französische Präsident Macron schon begrüßt hat, eben ein Mehr von deutscher Seite, auch Geld. Es ist so wenig nicht.
Mit 20 Prozent Stimmen keine 100 Prozent Gewicht
Aber in Teilen der SPD ist man unzufrieden mit dem Ergebnis. Die Kritiker des Sondierungsergebnisses argumentieren stets mit Ja, aber. Sie verurteilen das Papier nicht ganz so direkt, aber sie meinen es so: Es reicht ihnen nicht, das Resultat ist zu wenig. Die vielen kleinen Fortschritte für nicht wenige, eben die Grundrente für alte Frauen, die wenig haben, wird nicht gewürdigt. Nahles erzählt eine Geschichte, die sie erlebt hat und nennt einen Zeugen, der dabei gewesen sei, als die erwähnte alte Frau sich für die Grundrente, die sie dringend brauche, bei ihr bedankt habe. Als wenn das nichts wäre! Die Kritiker bedenken nicht, dass ihre Partei bei der Wahl nur etwas mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen bekommen hat. Damit kann man schlecht 100 Prozent durchsetzen. Politik heißt Kompromiss, entsprechend der Stärke der Parteien bei Wahlen. Nahles, nicht unumstritten auch in den eigenen Reihen wegen mancher naßforscher Äußerungen und kindischer Bemerkungen(bätschie), bringt es auf den Punkt: Die Bürger „zeigen uns nen Vogel zeigen“, wenn die SPD den Eindruck vermittle, dass sie nur noch Politik mache, wenn sie über die absolute Mehrheit verfügte. Und sie ergänzt mit Blick auf die Kritiker: „Das ist doch Blödsinn.“ So ganz falsch liegt die Fraktionschefin damit nicht. Der Beifall des Parteitages zeigt, dass sie mit ihrem kämpferischen Auftritt die Stimmung vieler Delegierter getroffen hat.
Halbvoll oder halbleer. Sollen wir oder sollen wir nicht. Das Ganze begleitet mit der Legende in der SPD, als sei Merkel schuld am Wahl-Desaster, am Niedergang der SPD, an den 20 Prozent, daran, dass die unbestrittenen Erfolge der Partei in der Regierung Merkel von den Wählerinnen und Wählern eben Merkel zugerechnet wurden. Die Genossen unterschlagen dabei gern, dass es die SPD war, die ihre Erfolge nicht herausstellte, sondern dafür sorgte, dass die Arbeit ihrer Ministerinnen und Minister von den eigenen Parteifreunden oft genug mit Kritik begleitet wurde. Und was den Mindestlohn als große Errungenschaft angeht: Ein älterer SPD-Mann, der lange Jahre für die SPD gearbeitet hat, bezweifelt die Größe dieser angeblichen sozialen Tat mit der Frage: Wer will denn zum Mindestlohn arbeiten?
Mehr Selbstbewusstsein, Mut und Stolz
Der Meinungswechsel führender Sozialdemokraten spielte in der Debatte eine große Rolle. Malu Dreyer, die beliebte Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz, bekannte sich dazu als erste Rednerin und sie begründete ihren Kurswechsel vom Nein zum Ja. Allein die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung sei für sie eine Herzensangelegenheit gewesen, ein Stück Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit. Und immer wieder tauchte in der Diskussion auch die Forderung auf, die SPD müsse mit mehr Selbstbewusstsein ihre Forderungen vertreten, mit mehr Mut und Stolz. In der Tat zählt das Jammern zu den Charakterzügen der mit 154 Jahren ältesten deutschen Partei, die nie zufrieden ist, nicht in der Regierung, nicht in der Opposition. Dies hat mir vor Jahren der frühere Bundesminister Jürgen Schmude gesagt und damit ein Teil der Schwierigkeiten der Partei umschrieben.
Wenn nicht die SPD wer dann … So begann mancher Satz, um zu einem Ja zu einer neuen GroKo zu kommen. Es stimmt ja, die Partei hat immer wieder Verantwortung übernommen in der Hoffnung und Absicht, dass es im Land und den Menschen besser gehe. NRW-Parteichef Michael Groschek ragte bei den Befürwortern der GroKo heraus. Er begann mit der Auflistung der Fehler der SPD, ihrer Distanz zu Kunst und Kultur, wo sie früher zu Hause war, ihren zeitweisen Problemen mit den Gewerkschaften, mit denen man aber wieder gut im Gespräch sei und mehr. Die SPD, so kann man Groschek auslegen, müsse zurück zu ihren Wurzeln, dahin gehen, wo die Schwierigkeiten seien und die Menschen ihre Sorgen hätten. Das war ein kraftvoller Auftritt eines Mannes, der die Wählerinnen und Wähler, die die SPD in NRW bei der letzten Landtagswahl verloren hatte, zurückholen will. Natascha Kohnen, die bayerische SPD-Chefin, im Freistaat nicht unbedingt erfolgsverwöhnt, sagte der CSU zumindest den Kampf an, damit diese die absolute Mehrheit ein für alle mal verliere.
Demokratie lebt von der Debatte
Martin Schulz würdigte die Art der Auseinandersetzung der SPD mit dem Thema GroKo, die Debatte um die Inhalte. Erst dieser Sonderparteitag, danach der Einstieg in die Koalitionsverhandlungen, die wiederum grünes Licht von den rund 440.000 SPD-Mitgliedern brauchen, ein langes Verfahren, schwierig obendrein, unberechenbar. Kritiker meinten vor dem Sonderparteitag, die SPD mache sich das Leben wieder mal schwer. Demokratie lebt von der Debatte, das betonte auch der Parteichef. Ziel sei, die SPD wieder an die Spitze der Bewegung zu führen.
Am überzeugendsten war Schulz bei seinem Lieblingsthema Europa, kein Wunder, der Mann hat ja viele Jahre in Brüssel verbracht. „Durch Europa schwappt eine rechte Welle“, begann er das Kapitel Europa in seiner zu langen Rede, die aber an der Stelle von den Delegierten mit viel Beifall honoriert wurde. Klar, der Kampf gegen Rechts, das war Immer das Thema der SPD. Willy Brandt musste vor den Nazis ins Ausland fliehen, das ist nicht vergessen. Und später musste er sich bei Kritikern dafür rechtfertigen, eine Unverschämtheit war das damals in den 60er Jahren. „Diese rechte Welle“, fuhr Schulz fort, könne nur durch eine deutsche Regierung gestoppt werden. Deshalb müsse die SPD in diese Regierung, da hatte Schulz den Parteitag kurz auf seiner Seite. Allein dafür lohne es sich zu kämpfen. Die SPD sei das Bollwerk gegen Rechts. Die Sorgen sind aber da, dass bei Neuwahlen die SPD noch mehr an Stimmen verliert und der rechte Rand noch stärker wird.
Nie waren Jusos so stark wie jetzt
Wann spielten Jungsozialisten eine solche zentrale Rolle in der SPD, wann standen sie das letzte Mal im Mittelpunkt einer Debatte, deren Ausgang von den Jusos abhängig gemacht wurde. Juso-Chef Kühnert machte das sehr geschickt mit seinem Nein zur GroKo. Wie auch immer entschieden werde, räumte er ein, es sei nicht das Ende der Geschichte und schon gar nicht der SPD. Er räumte sogar ein, „dass unsere Leute gut verhandelt haben“, aber die Gemeinsamkeiten mit der Merkel-CDU- er meinte die in der Regierung- seien verbraucht. Kühnert sprach die „immense Vertrauenskrise unserer Partei“ an, die Wendungen mancher Genossen. Und er wies daraufhin, dass es jenseits des Willy-Brandt-Hauses in Berlin eine andere Wahrnehmung gebe. Da ist ja was dran, zumal, je weiter man weg ist vom Sitz der Partei. Und er kritisierte in aller Schärfe, dass die SPD-Ministerinnen und -Minister in der GroKo eben mehr bessere Pressesprecher gewesen wären. „Wir machen uns klein“, rief er unter dem Beifall vieler ins Plenum. Eine erneute GroKo würde viele enttäuschen, die sich gemeldet hätten, telefonisch oder anderswie, weil sie Angst um die SPD hätten. Er habe diesen Menschen geraten: „Macht Euch auf, kommt in diese Partei. Macht mit bei diesem Erneuerungsprozess.“ Die Kritik von CSU-Mann Dobrindt mit dem Zwergenaufstand nahm Kühnert gekonnt auf. Motto: Zukünftig wolle die SPD wieder ein Riese sein. Es sei Zeit, so sein Appell an den Parteitag, wieder den aufrechten Gang zum üben. Die GroKo werde die SPD lähmen, deshalb sei er dagegen.
Nach für fünf Stunden ging der Parteitag in die letzte Runde. Der Parteichef bat noch einmal ums Wort. Das Land und der Kontinent bräuchten mehr sozialdemokratische Politik. „Deshalb bitte ich Euch, bittet der Vorstand Euch ums Zustimmung zur Aufnahme von Koalitionsgesprächen mit der Union“. Schulz versprach: „Wir kämpfen ohne Angst, ohne Scheu, mit Mut.“ Eine SPD, die sich erneuere und den Draht zur Gesellschaft wieder verstärke, eine solche SPD werde auch wieder gewählt. Da hatte er ein bisschen mehr Beifall, den er wohl auch dafür bekam, dass er die Partei in dieser schwierigen Phase mit eingebunden hatte in die Verantwortung.
Ende offen.