Es hat wieder Konjunktur, angesichts der dramatischen Lage der SPD das Ende der Sozialdemokratie heraufzubeschwören. Vor allem denen, die es gern so hätten, kann man getrost entgegenhalten, dass die sozialdemokratischen Grundwerte für die große Mehrheit der Menschen im Land nichts an Strahlkraft verloren haben. Alle seriösen Umfragen spiegeln den Wunsch nach einer Politik wider, die für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sorgt. Ziemlich stabil 30 Prozent der Befragten äußern nach wie vor sogar eine traditionelle Nähe zur SPD als der Partei, die dafür sorgen sollte. Leider glaubt nur mindestens die Hälfte von Ihnen nicht mehr daran, dass sie das tut.
Sie nehmen der SPD die Sozialdemokratie nicht mehr ab. Die drei Buchstaben S, P und D erzeugen in den Köpfen der Menschen keine Fantasie mehr davon, wie eine Stimmabgabe für die SPD sie den sozialdemokratischen Werten näherbringen und dazu beitragen sollte, ihr Leben und das ihrer Kinder in Zeiten rasanter Veränderungen ein Stück kalkulierbarer zu machen.
Dabei attestieren auch politische Wettbewerber der SPD, dass sie in der Regierung viel – aus deren Sicht sogar viel zu viel – erreicht habe: Mindestlohn, Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Mietpreisbremse, Einstieg in die Diskussion über eine Grundrente, die Ehe für alle – mehr als ein Symbol einer toleranten und offenen Gesellschaft, in der jede und jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann, sondern auch ein Beitrag zu einem kalkulierbareren Leben für alle. Jeder Einzelerfolg der SPD spricht aber direkt immer nur eine Minderheit an und wird zudem selbst von dieser Minderheit kaum der SPD zugerechnet. Die Mehrheit lebt nicht vom Mindestlohn. Sie kann ihre Miete (noch) bezahlen. Sie wird vermutlich nicht von der Grundrente leben müssen, hat im Zweifel keine kleinen Kinder und lebt nicht in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung.
Deshalb schlagen sich all diese für viele Menschen zählbaren praktischen Erfolge nicht in Stimmen nieder. Zu all den einzelnen Steinchen fehlt das große Gesamtmosaik, das auch den nicht direkt Betroffenen zeigt, wieviel die Einzelleistungen zur Wahrung der Stabilität einersich wandelnden Gesellschaft beitragen. Dieses Gesamtmosaik wird sich weder durch politische Alltagsarbeit noch durch theoretische Debatten und programmatische Parteitagsbeschlüsse ergeben, solange zwei Punkte nicht geklärt sind.
Fehler der Vergangenheit nennen
Erstens: eine klare und glaubhafte Positionierung zu den Fehlern der Vergangenheit. Die SPD hat in Regierungszeiten – wenn auch in bester Absicht – für herbe Enttäuschungen bei ihrer Kernwählerschaft gesorgt. Das waren beileibe nie nur die Arbeitnehmerschaft allein, sondern auch die Visionäre in Wissenschaft und Kultur und das aufgeklärte Bürgertum, das weiß: Der eigene Wohlstand hängt von der Kalkulierbarkeit des Lebens aller Bevölkerungsschichten und damit vom sozialen Frieden ab. Die SPD hat sich stattdessen von massiver Lobbypolitik treiben lassen, die ihr eingeredet hat, dass Zukunftssicherung für alle nur gelingt, wenn Deutschland sich am internationalen „Entlastungs“-Wettbewerb für die beteiligt, auf die sich ohnehin der allergrößte Teil der Einkommen und Vermögen konzentriert. Zudem hat sie sich zu schmerzhaften Einschnitten (ein gern verwendeter Begriff) nötigen lassen – allerdings nur für die, die eh schon am Ende des Geleitzuges gehen. Solange sich die SPD dieser Historie nicht entschieden stellt, sondern erkennbar hin und her wabert, kommt die Glaubwürdigkeit nicht zurück.
Die Unentschlossenheit im Umgang mit den Fehlern der Vergangenheit hat die Marke SPD schwer beschädigt. Jede und jeder kann sich die jeweils enttäuschendsten SPD-Positionen der vergangenen Jahrzehnte heraussuchen. Für die Einen ist sie zu links, für die Anderen zu rechts. Und jeder kann mit Beispielen und Kronzeugen für seine Einschätzung aufwarten. Die vergangenen Jahre haben leider gezeigt, dass dieses Dilemma in der gesamten Breite des parteiinternen Meinungsspektrums nicht auszudiskutieren ist.
Es fehlt die Führungsfigur
Zweitens – und das ist noch wichtiger als die Vergangenheitsbewältigung: eine glaubwürdige und begeisterungsfähige Führungsfigur bzw. ein ebensolches Führungsduo. Das Wohl und Wehe der SPD hängt davon ab, ob im anstehenden Findungsprozess eine oder zwei Persönlichkeiten auf den Plan treten, denen das nach wie vor vorhandene Wählerpotenzial der SPD wieder abnimmt, für die sozialdemokratischen Werte zu stehen und die zugleich Brücken baut. Ohne ein glaubwürdiges Gesicht, ohne jemanden, dem die Wählerinnen und Wähler für die Prokura geben würden, ihre Belange in den nächsten Jahren in praktische Politik zu übersetzen, wird mit den drei Buchstaben S, P und D auch in Zukunft kein Blumentopf zu gewinnen sein. Das nötige Vertrauen werden nur eine oder einer oder auch zwei im Tandem schaffen können, wenn sie in der Lage sind, Brücken zu bauen. Brücken innerhalb der Partei, indem sie die zweifellos guten Absichten der einzelnen Strömungen zu würdigen wissen, aber auch die Autorität aufbringen, alle auf einen eigenen klaren Kurs einzuschwören. Brücken schlagen müssen sie auch in die Gesellschaft hinein, indem sie die Frage von Gerechtigkeit und Solidarität nicht zu einer Frage des Gegeneinanders von Arm und Reich oder von Unten gegen Oben machen, sondern in allen Schichten um diejenigen werben, die wissen, dass es nur gemeinsam in einem Gemeinwesen geht, in dem starke Schultern mehr übernehmen als schwache. Es gibt viele Wohlhabende, die das längst erkannt haben, so, wie es auch unter den Schwächeren der Gesellschaft eine Tendenz des Gruppenegoismus und der Neigung zur Abschottung gegen alles Andersartige gibt.
Die SPD hat alle Chancen, auch oder gerade als Volkspartei wieder erfolgreich zu sein. Dazu darf sie pro und contra nicht an gesellschaftlichen Gruppen festmachen, sondern an der Bereitschaft, für eine offene, tolerante, solidarische und friedfertige Gesellschaft einzutreten. Dafür muss die Person an der Spitze überzeugend stehen. Die SPD muss wieder glaubhaft die Partei werden, die sich besonders für die Menschen einsetzt, die selbst nicht über Macht und Einfluss verfügen, ihr legitimes Interesse an einem kalkulierbaren Leben in Würde und zumindest bescheidenem Wohlstand für sich und ihre Kinder zu vertreten. Sie muss diese Politik mit denen machen, die vielleicht gar nicht direkt auf die Vertretung ihrer Interessen durch die SPD angewiesen sind, die aber um den Wert einer solidarischen und stabilen Gesellschaft auch für sich selber wissen. Und die SPD muss den Mut aufbringen, Stellung gegen die zu beziehen, denen es allein um die ungezügelte Verfolgung des Eigennutzes geht – ohne Rücksicht darauf, zu welchen sozialen, geografischen oder generationenübergreifenden Verwerfungen das führt.
Ran an die Verteilungsfrage
Die SPD wird sich nicht erholen, wenn sie die Verteilungsfrage des Reichtums in Deutschland und der Welt weiterhin so umschifft wie bisher. Denn die in Deutschland extrem tiefe Kluft zwischen Oben und Unten ist Ursache und Folge für den zunehmenden Milieu-Egoismus und der gefährlichen Sympathie für nationale Abschottung.
Der Klimawandel ist dafür geradezu ein Symbol. Er ist Zeichen einer viel zu lange missachteten Lastenverschiebung in die Zukunft. Eine Umkehr muss zweifelsfrei zu Verzicht in der Gegenwart führen. Wenn dieser Verzicht aber weder die Ärmsten in anderen Regionen der Welt noch die Normalverdiener hierzulande treffen soll, muss die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Sprache kommen. Die SPD sollte nicht so tun, als seien die Grünen der Hauptgegner. Sie treffen mit dem Thema Klimapolitik nicht nur den Nerv der Zeit, sondern beschreiben die Verteilungsfrage von ihrem Kern her – der gerechten Chancenverteilung zwischen den Generationen. Sie weichen allerdings der Frage aus, wer die Rechnung für die Lasten in der Gegenwart zahlt.
SPD muss ein Bündnis schmieden
Da liegt die große Chance der SPD: Ein Bündnis zu schmieden zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen, die sich der gemeinsamen Aufgabe bewusst sind, dass eine gerechtere Verteilung zwischen heute und morgen ebenso wie zwischen Deutschland und anderen Regionen der Welt nur mehrheitliche Zustimmung finden wird, wenn die Normalverdiener nicht um ihren schwer erkämpften bescheidenen Wohlstand und ihre Zukunft bangen müssen. Dieser Mehrheit muss aber auch jemand überzeugend erklären, dass ihr Leben nicht kalkulierbar wird, wenn es keine Kalkulierbarkeit des Lebens der Menschen in allen gesellschaftlichen Schichten, in allen Regionen der Welt und über die eigene Generation hinaus gibt. Mit Parteitagsbeschlüssen allein ist das aber nicht zu schaffen. Es ist auch nicht damit zu schaffen, dass wir allen vorgaukeln, Veränderung verhindern zu können. Schon gar nicht, indem wir uns daran beteiligen, die Bedrohung durch den Klimawandel zu verharmlosen.
Wir können aber nicht die Partei des Klimaschutzes und damit der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen sein und den Kohleausstieg eher verlangsamen als beschleunigen wollen. Unsere Aufgabe ist es, in der Energiewirtschaft, im Verkehrssektor, in der Landwirtschaft Bedingungen für eine Transformation zu schaffen, die den von der unumgänglichen Veränderung Betroffenen nicht die Kalkulierbarkeit ihres Lebens nimmt. Das gilt ebenso für unseren glaubhaften Auftrag als Partei der Friedenssicherung. Er verträgt sich nicht mit der Zustimmung zu Waffenexporten mit dem Ziel der Arbeitsplatzsicherung in der Rüstungsindustrie. Eine solche Politik zu vermitteln, geht weder über Texte noch über Gremienbeschlüsse. Das geht nur über Köpfe – glaubwürdige und begeisterungsfähige Persönlichkeiten, die ehrlich sagen, was ist, und die es wieder schaffen, dass man ihnen abnimmt, was sie sagen.
Endlich mal eine glaubwürdige Selbstkritik der SPD (die meiner Erinnerung nach hier sogar zum ersten Mal überhaupt zu lesen ist, sonst gab es zu diesem Thema bisher nur Nostalgie und Beschönigung der jüngeren Vergangenheit). Dazu noch einige Hinweise, wohin die Reise gehen könnte, wenn man denn nur wollte. Weiter so!