Der neue italienische Premierminister Giuseppe Conte wird als Marionette von der „Süddeutschen Zeitung“ bezeichnet, die dabei die italienischen Tageszeitungen dieser Tage zitiert. Dort nennt man ihn spöttisch „Puppe“, „Mr. Nobody“. Übertrieben und herablassend aus der deutschen Sicht gesehen? Unmöglich den eigenen Premier seitens der italienischen Medien so zu strapazieren? Sicherlich nicht in Italien, sicherlich nicht in der aktuell konfusen, politischen Lage, die zur Ernennung eines völlig Unbekannten als Regierungschef führte. Dabei obliegt dem Premier nach der Verfassung die Richtlinienkompetenz, er bestimmt sie und trägt dafür die Verantwortung. Artikel 95 der italienischen Verfassung. Aber das ist Papier. Rätsel Italien.
Conte, Anwalt aus Apulien und Zivilrechts-Professor an der Universität zu Florenz, kannten in der Tat bis dato nur seine eigenen Studenten. Nichts wußte der Präsident der Republik Mattarella von ihm, der quasi die Katze im Sack kaufen musste, um Neuwahlen zu vermeiden.
Nach der Wahl am 4. März und einer langen Zeit der Instabilität – die den Deutschen nicht unbekannt vorkommt – hatte sich in Italien eine Regierung gebildet, die aus zwei völlig entgegengesetzten Lagern besteht: auf der einen Seite sind die Rechtspopulisten der Lega und auf der anderen die Bewegung Cinque Stelle, die ziemlich schwer zu definieren ist und in die auch die Stimmen vieler enttäuschter Linksgesinnter eingeflossen sind.
Die Männer an der Spitze beider Parteien – der Minister des Inneren Matteo Salvini (Lega) und der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Arbeit und Sozialpolitik Luigi Di Maio (Movimento Cinque Stelle=M5S)-haben so sehr gegeneinander gerudert, dass eine einzige Lösung am Ende ihnen zur Verfügung stand: jemanden vorzuschieben, dessen Gesicht noch nicht verbraucht war, um dadurch aus dem Engpass herauszukommen, in dem sie standen. So einer ist eben Conte, der aber leider nur wie das Sprachrohr der Obengenannten wirkt. Er hatte noch nicht ganz von seinen Abkommen mit dem französischen Premier Emmanuel Macron in der Sache „Lifeline“ die Presse ins Bild gesetzt, als er prompt von seinen beiden Vizes (im welcher anderen Land Europas übrigens gibt es zwei stellvertretende Premierminister?) zurückgepfiffen wurde. So sieht Richtlinienkompetenz in Italien aus.
Salvini macht, was er will
Di Maio und Salvini setzen einfach ihre eigene Prioritäten durch: der erste will das Wahlkampagne-Versprechen eines „Reddito di cittadinanza“ wahr machen, also den Arbeitsmarkt und das Rentensystem reformieren, obwohl sein Finanzminister schon bekannt gab, dass diese Projekte finanziell nicht gedeckt sind. Aus diesem Grund entsteht auch die Forderung, „Sconti“ (Rabatte) aus der EU zu bekommen! Der Zweite schreckt nicht einmal vor verfassungswidrigen Schritten zurück: er will Roma und Sinti zählen lassen, die in Italien leben, er will also eine Zählung auf Ethnie-Basis durchführen lassen, die leider an Handlungen erinnern, die in Italien und Deutschland aus den 30er Jahren, aus der Zeit der Nazis und Faschisten bekannt sind. Und sie richtet sich gegen die italienische Carta, die jede Art der Diskriminierung wegen Ethnie, Hautfarbe, Religion, Sexualität oder politische Meinung ausschließt. Und als Conte Salvinis Verhalten stoppen wollte, und dabei sein „Basta, das geht jetzt zu weit“ hören ließ, zückte Salvini nicht einmal mit den Wimpern und erklärte am folgenden Tag, dass er seinen Plan in die Praxis umsetzen wird. So sieht es aus.
Auch für die Schiffe der NGOs hat er sein Programm: am besten sollen sie das Mittelmeer verlassen, italienische Häfen stehen ihnen nicht mehr zur Verfügung, denn sie seien der verlängerte Arm der „Scafisti“, der Bootsfahrer, die Menschenhandel betrieben. So Salvini. Als er mit dem Schiff von SoS Mediterranee und Ärzte ohne Grenze anfing, das am Ende in Spanien seine Menschen an Land brachte, dachte ich, es sei nur eine Provokation, um den Blick der EU endlich wieder auf die Lage der Landungsländer vor dem wichtigen Treffen am kommenden Freitag zu lenken: wie naiv! Europa als Wertegemeinschaft, das war einmal. Das Abendland ist lange her.
Euro geht vor der Moral
Die Europäischen Werte von Solidarität und gegenseitigem Respekt, auf die die Union fußt, werden mit den Füßen betreten, aber das scheint niemanden zu interessieren. Der Euro geht vor der Moral. Die Finanzmittel für den Straßenbau seitens der Union sind überall willkommen, nicht aber die Flüchtlinge, die niemand will, Deutschland auch nicht. Die Regierung in Berlin steht sogar auf der Kippe, weil die Positionen von Angela Merkel und ihrem Innenminister und CSU-Chef Horst Seehofer in der Frage der Immigrationspolitik auseinanderliegen. Österreich spielt hier auch mit, weil Flüchtlinge nicht willkommen sind. Und wenn Deutschland Flüchtlinge, die schon in einem anderen EU-Land als Asylbewerber registriert und abgelehnt wurden, diese nicht ins Land lässt, sondern sie zurückschiebt nach Italien oder Österreich, will man sie ebenfalls abweisen. Willkommenskultur sieht anders aus. Jeder ist sich selbst der Nächste. Dass in diesem Streit die deutsche Regierung auseinanderfliegen könnte, dass es die Union aus CDU und CSU zerreißen könnte mit unklaren Folgen, es scheint die Streithähne nicht zu kümmern. Man hat den Eindruck, sie wollen Merkel stürzen. Egal wie.
Eine „bella figura“ macht auch der Präsident der Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, nicht. Er erkennt, dass die Immigrationspolitik eine Aufgabe ist, die nur die EU als geschlossene Einheit betreiben kann. Dafür fordert er von seinen Landsleuten mehr Einheit und mehr Einstimmigkeit in der EU, aber auf der anderen Seite plädiert er für einen Abkommen mit Libyen in der Art, wie es die EU schon mit der Türkei geschlossen hat. Ein Geschäft für den Autokraten Erdogan, aber auch für die EU. So hält man sich Millionen Flüchtlinge vom Leibe und zahlt dafür ein paar Milliarden Euro. Ein schmieriges Geschäft. Zunächst will Tajani Hotspots in Libyen einrichten und dort die Flüchtlinge besonders aus dem Tschad und Niger sammeln oder wie immer man das nennen will. Dass die Menschen dort in Lagern gefangen gehalten werden, scheint bei ihm keine Rolle zu spielen. Möglich, dass er Salvini bestätigen will, der gesagt hat, Gewalt und Elend in den libyschen Auffanglagern sei nur ein (schlechter !) Mythos.
Stimmung an der Basis
Aber wie konnte Italien so weit kommen? Eines der Gründungsländer der europäischen Union, man denke an die Römischen Verträge.
Es gibt mehrere Gründe. An erster Stelle die blasse Politik des „Partito Democratico (PD), während und nach der Wahlkampagne. Der PD, der heute eigentlich aus der Zusammensetzung von Sozialdemokraten und Teilen der alten „Democrazia Cristiana“ nach den Skandalen der 90er Jahren besteht, war nicht in der Lage, die Stimmung an der Basis wahrzunehmen und hatte keine Antworten auf die Ängste der Bevölkerung, zu denen auch die Immigration gehört. Man hatte keine glaubwürdigen Gesichter nach dem politischen Ableben von Matteo Renzi. Man hat sich nicht ausreichend um die Arbeitspolitik gekümmert.
Und das in einem Land, das zwar die zweite industrielle Macht nach Deutschland in der EU ist, aber auch eine der höchsten Arbeitslosenquoten in der Union hat. Sie liegt bei 11%, verglichen mit dem Durchschnitt von 7% in der EU ist das nicht so dramatisch. Zumal Spanien mit 16% und Griechenland mit 20% noch schlechter abschneiden. In manchen Gegenden Italiens, z. B. in Kalabrien, steigt sie aber auf 17% und sogar auf 58 % unter den Jugendlichen (15-24 Jahren). Und dieser negative Trend gilt auch für den nächsten Altersabschnitt der Bürger (25-34 Jahre alt).
Solche Daten sagen ziemlich viel über die Lage und die Stimmung des reichen Nordens des italienischen Staats und des verarmten Südens, wobei die Schere immer mehr auseinander geht. Und sie wird weiter auseinander gehen, wenn der Traum Salvinis und seiner Clique eines strengen Föderalismus ohne solidarische Umverteilung des Reichtums sich durchsetzen sollte..
Retter mit dem Zauberstab
Selbstverständlich hatte die M5S einfaches Spiel in Süden mit dem Versprechen eines „Reddito di cittadinanza“ , eine Art monatliche Sozialhilfe von 800 € für alle nicht Erwerbstätigen, unabhängig vom Status des Einzelnen. Und das nicht nur im Süden, sondern allgemein im ganzen Land, das historisch gewohnt ist, nach einem Retter mit dem Zauberstab zu suchen, der verspricht. Dabei ist es egal, ob dieser früher Garibaldi oder Cavour hieß, oder in jüngster Zeit Berlusconi. Der wollte das Land aus der Gefahr des Kommunismus befreien in einer Zeit, als es keine Kommunisten in Italien mehr gab. Trotzdem ging seine Rechnung zwanzig Jahre lang auf, als er lauthals gegen die „toghe rosse“ geschrien hat, gegen die Staatsanwälte, die ihn wegen Untreue, Korruption und Steuerhinterziehung angeklagt hatten und die er als verlängerten Arm der Kommunisten bezeichnet hatte, um die Bürger davon abzulenken, dass er damit beschäftigt war, Gesetze verabschieden zu lassen, um nicht im Gefängnis zu landen. Aber der Cavaliere ist von seinen ehemaligen Mitstreitern (Lega und M5S, samt den Faschisten von Fratelli d’Italia, eine Splitterpartei aus der ehemaligen Movimento Sociale Italiano von Giorgio Almirante) abserviert worden. Er spielt keine Rolle mehr
Zurück zum Innenminister Salvini, zu Italien im Sommer 2018. Er kann machen, was er will und die Notwendigkeit des Polizei-Schutzes eines namhaften Autors wie Roberto Saviano in Frage stellen. Und kaum jemand regt sich auf, dass er das Leben von Saviano, der von der Mafia bedroht wird, zur Disposition stellt. Unmenschlich, unmoralisch. Nebenbei sei daran erinnert, dass rund 130 Journalisten im Stiefelland unter Polizei-Schutz leben, was kein normaler Zustand in einem demokratischen Land in Europa ist. Salvini will die Stimme des „Nestbeschmutzers“ Saviano mundtot machen, weil er kein Blatt vor dem Mund nimmt. Und dafür sagen wir, die anderen Italiener, „Grazie Roberto“!
Aber was kann man erwarten von einer Regierung, die in ihrem Koalitionsvertrag das Wort „Mafia“ nur einmal erwähnt und zwar nur am Rande?
Renzis Malheur mit den Banken
Italien ist heute anders. Die Lega hat den Zusatz Nord gestrichen und konnte auch deshalb in den Regionen Mittelitaliens Fuß fassen. Und ihr Spiel ist in der Tat aufgegangen, wie die Stichwahl auf der Kommunalebene am vergangenen Wochenende in vielen Städten der traditionell roten Regionen der Toskana gezeigt hat. Hier handelt sich auch um einen Denkzettel für den PD der Ära Renzi, dessen Regierung die älteste Bank der Welt, den „Monte dei Paschi di Siena“, mit massiven Mitteln der öffentlichen Hand vor dem Bankrott bewahrte. Das haben die Italiener Renzi über genommen.
Das Flüchtlingsproblem ist aktuell, obwohl die Zahlen zurückgegangen sind. Wir stellen die Frage, wo die Boote landen, die von den Küsten Libyens ins offene Meer gefahren sind? Wir stellen sie auch den vielen Touristen, die in diesem Sommer die wunderschönen Küsten Italiens, Maltas, der Türkei und Griechenland, Spaniens und Ägyptens beleben und genießen werden. Vor diesem Hintergrund werden am Freitag die Innenminister der 27 EU-Staaten zusammenkommen und diese Fragen beantworten müssen. Wir brauchen eine europäische Lösung, national ist das Problem nicht zu lösen. Wenn jeder hilft und mitmacht, sich solidarisch zeigt und nicht egoistisch denkt, wird es gehen. Die Flüchtlinge brauchen Europa. Dass Mittelmeer ist ein Ort für Touristen, um zu baden und sich zu erholen, wir sollten es nicht zu einem Meer der Toten verkommen lassen.
Noch ein Wort zu Italien zum Schluß. Das Land ist im Wandel. Es ist weiter ein Lieblingsort der Deutschen und wird es hoffentlich bleiben, auch wenn es dieToskana-Fraktion der Schilys, Schröders und Fischers nicht mehr gibt. Der rote und edle Brunello di Montalcino wird überleben.
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