Die SPD macht es spannend. Vor ihrem Sonderparteitag in Bonn wird kräftig spekuliert, ob die 600 Delegierten eine Mehrheit für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union zustande bringen werden. Stimmungen, so gilt stets, sind keine Abstimmungen. Alles ist möglich, ergebnisoffen, um ein strapaziertes Wort aus dem bisherigen Sondierungsgeschehen zu bemühen.
Nordrhein-Westfalen rückt ins Zentrum der Auguren, und auch die Parteiführung weiß, dass sie, um nicht unterzugehen, den mitgliederstärksten Landesverband auf ihre Seite bringen muss. Das ist umso schwerer, als die Sozialdemokraten in NRW gleich zwei bittere Wahlniederlagen zu verdauen haben, die überraschende bei der Landtagswahl im Mai und die erwartete im September im Bund.
Basis pocht auf mehr
Die Verzweiflung an dem Niedergang sitzt tief, der Groll auf die Von-oben-herab-Politik hält sich beharrlich. Neu, Neuanfang, Erneuerung: die Vokabeln sind abgenutzt. Schon mit den ersten personellen Weichenstellungen – Norbert Römer als Fraktionsvorsitzender im Landtag, Andrea Nahles als Pendant im Bundestag – haben sie ihre Ernsthaftigkeit eingebüßt. Die Basis pocht auf mehr: mehr Haltung, mehr Profil, mehr sozialdemokratische Seele.
In Dortmund, der aus stolzeren Zeiten so genannten Herzkammer der Sozialdemokratie, hat Parteichef Martin Schulz das zu spüren bekommen. Auch in Düsseldorf, seiner rheinischen Heimatregion, schlug ihm der Unmut derer entgegen, die zu einer Neuauflage der Großen Koalition kategorisch Nein sagen. Nicht, weil sie die Verantwortung scheuen, sondern weil sie um die Existenz der SPD fürchten.
Viele zitieren in diesen Tagen Willy Brandt mit den Worten: „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Daraus spricht die Unzufriedenheit über den Verlust der eigenen Identität, der ja nicht erst in den Großen Koalitionen, sondern schon mit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, dem „Genossen der Bosse“ begann, und der sich seither fortsetzt – im neoliberalen Mainstream – bis hin zur Unkenntlichkeit.
Menschen, nicht Märkten verpflichtet
Die entscheidende Frage ist die nach dem Primat der Politik. Seit dem Ende des Kommunismus und der Konkurrenz der Systeme ist der Kapitalismus entfesselt, er braucht die Politik nicht mehr, um nach Gutdünken rücksichtslos wirtschaften zu können. Der Regierungsstil von Angela Merkel, die sich mit dem Verwalten begnügt, fügt sich da aufs Bequemste ein. Der Anspruch der SPD müsste jedoch, ihrem Wesen und ihrer Herkunft nach, ambitionierter sein: gestalten statt verwalten, nicht den Märkten, sondern den Menschen verpflichtet.
Die Entscheidung des SPD-Parteitags und, falls es tatsächlich zu Koalitionsverhandlungen und einer Einigung kommt, der kompletten Mitgliedschaft, rührt an Grundsätzliches. Die von Oskar Lafontaine, dem ehemaligen SPD-Chef und heutigen Linken, angestoßene Debatte über eine „linke Sammlungsbewegung“ zeugt ansatzweise von den gleichen Überlegungen: Wird es in der deutschen wie der europäischen Zukunft eine nennenswerte politische Kraft geben, die den Kapitalismus zügelt, eine soziale Marktwirtschaft gestaltet, Wohlstand und Chancen gerecht verteilt?
Auch Merkel in der Veranwortung
Die SPD hat das Schicksal mehrerer europäischer Schwesterparteien vor Augen, die in die einstellige Bedeutungslosigkeit gerutscht sind. Sie muss nun entscheiden: Genügt die Aussicht auf einige sozialdemokratische Akzente zum Wohl der Menschen, um Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vierte Amtszeit und damit ein „Weiter so“ zu ermöglichen? Oder sind die zu erzielenden sozialdemokratischen Korrekturen allenfalls kosmetischer Natur und es daher nicht wert, die Erneuerung der Partei weiter aufzuschieben?
Die SPD macht es spannend, und auch nach einem Nein zur GroKo bliebe die aktuelle Regierungsbildung ein überaus spannendes Unterfangen. Angela Merkel als Chefin einer Minderheitsregierung? Da müsste sie noch einmal völlig neue Qualitäten entwickeln, kreativ vorangehen, transparent arbeiten, einladend kommunizieren, das Parlament wertschätzen. Sie weiß schon, warum sie diese Lösung nicht will. Doch bevor sie leichtfertig auf Neuwahlen setzt, steht auch sie in der Verantwortung, zu der sie andere gern mahnt.
Bildquelle: pixabay, User geralt, CC0 Creative Commons