Fast ein halbes Jahr ist ins Land gegangen, bis Deutschland die Neuauflage der Großen Koalition mit Angela Merkel an der Spitze erlebte. In der Regierungsmannschaft zeigen sich viele neue Gesichter. Seit ein paar Wochen sind die Chefs in ihre Ministerien eingezogen und haben mehr oder weniger publikumswirksam ihre politischen Zukunftsprojekte verkündet. Die wichtigen Themen sind durch den Koalitionsvertrag auf 177 Seiten vorgegeben oder zumindest skizziert. Jedenfalls soll vieles besser und gerechter werden. Vor allem will die GroKo bei wichtigen Reformen mehr Tempo machen – bei der Digitalisierung ebenso wie beim sozialen Wohnungsbau, in der Migrations- und Integrationspolitik, beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit wie insbesondere in der EU-Politik. Bislang waren die ersten Gehversuche der CDU-, CSU- und SPD-Regierungsmitglieder verwirrend und wenig verheißungsvoll.
In dieser Woche geht die Regierungsmannschaft im Schloss Meseberg in Klausur. Man will sich besser kennenlernen, denn immerhin sind 10 von 15 Ministern neu im Kabinett. Vor allem soll es um das Klima innerhalb der Bundesregierung gehen. Bislang gab es in den wenigen Wochen seit der Bildung der GroKo mehr Gegen- denn Miteinander, fast überfallartige Attacken von Strategen der Union gegen die sozialdemokratischen Partner, unausgegorene und nicht abgestimmte Vorschläge sowie profilierungssüchtige Solo-Läufe. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles zeigte sich schon aufgebracht und irritiert. Sie mahnte zu mehr Disziplin, denn so könne es nicht weitergehen, dass die Regierung „eher eine Ansammlung von Sprechern in eigener Sache“ ist. Ihr Schuss zielte nicht zuletzt auf die Regierungschefin.
Eine unzufriedene Mehrheit
Da wundert sich kaum jemand, dass sich in jüngsten Umfragen 64 % der Wähler unzufrieden mit dem Merkel-Team zeigen. Lediglich 32 % sind zufrieden, so das Ergebnis des Deutschland-Trends von Infratest Dimap. Die Kanzlerin wird immerhin von 57 % der Bürger als „gute Besetzung“ für das Amt der Regierungschefin angesehen; am Anfang der letzten GroKo waren es im Januar 2014 immerhin noch 75 %. Relativ gut schneiden bei den Sympathiewerten auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (55 %), Finanzminister Olaf Scholz (49 %) und Außenminister Heiko Maas (43 %) ab.
Dagegen fallen die Sympathiewerte für Innenminister Horst Seehofer (39 %), Gesundheitsminister Jens Spahn (26 %), Verkehrsminister Andreas Scheuer (26 %) und Arbeitsminister Hubertus Heil (25 %) noch recht schwach aus; viele Wähler trauen sich bislang kein Urteil über diese Politiker zu.
Spaltung der Gesellschaft vermeiden!
Immerhin haben Horst Seehofer und sein Kabinettskollege Jens Spahn mit einer Interviewflut für manchen Zündstoff in der Öffentlichkeit und auch innerhalb der GroKo gesorgt. Seehofers Vorschläge für die zukünftige Regelung des Familiennachzugs von Migranten fanden sogleich heftigen Widerspruch aus den Reihen der SPD; das Gerangel um die gesetzliche Neuregelung wird innerhalb der GroKo in den nächsten Wochen noch heftig werden. Jens Spahn, der sich in den ersten Wochen seiner Amtszeit nicht mit seinem Ressort der Gesundheits- und Pflegepolitik begnügte, sondern sich mit klarer Kante zur großen Sozialpolitik profilierte, intonierte so ohne Zweifel eines der wichtigsten innenpolitischen Themen, nämlich die Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich. In der jüngsten Infratest Dimap-Umfrage bezeichneten 75 % der Unionswähler und 80 % der SPD-Wähler dies als großes Problem. Dies ist umso überraschender, da sich eine Mehrheit von zwei Dritteln der Bevölkerung nicht benachteiligt, sondern angemessen behandelt fühlt.
Allerdings hat die Diskussion über die gesellschaftliche Teilhabe seit einiger Zeit wieder deutlich zugenommen. Aus der SPD heraus werden neue Vorschläge laut, die auf ein solidarisches Grundeinkommen abzielen und für Langzeitarbeitslose die Schaffung sozialer Beschäftigung durch den Staat anpeilen. Damit wird die Diskussion über die Hartz IV-Regelungen neu entfacht.
Bedrohung durch Digitalisierung
Hinzu kommt, dass Teile des Mittelstandes, insbesondere der Angestellten und Facharbeiter, sich von der Digitalisierung mehr und mehr bedroht fühlen. Soeben hat die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) eine Studie veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommt, dass deutsche Arbeitnehmer von der Digitalisierung, Automatisierung und künstlichen Intelligenz überdurchschnittlich stark betroffen werden. Fast 20 % der Beschäftigten könnten demnach in Zukunft durch Roboter, Sensoren, Internet und Software verdrängt werden. 36 % müssten sich darauf einstellen, dass sich ihr Arbeitsalltag dramatisch ändern wird, weil ein großer Teil ihrer Tätigkeiten mittelfristig von intelligenten Maschinen erledigt werden könnte. Volkswirtschaften mit einem großen Industrieanteil -wie Deutschland und Japan- haben, so die OECD, ein besonders hohes Risiko für Automatisierung, da Jobs in der Industrie eine geringere soziale Intelligenz erfordern als in anderen Bereichen.
Besonders betroffen von der digitalen Revolution werden nach OECD-Angaben mehr als die Hälfte der Jobs in den Bereichen Industriearbeiter, Kraftfahrer, Gebäudereiniger, Maschinenbauer, Verkäufer, Bauarbeiter und Hilfsarbeiter sein – jeweils zu mehr als 50 %.
Wenn auch andere Wissenschaftler solche Prognosen für übertrieben halten, so muss die Politik doch so schnell wie möglich gemeinsam mit den Sozialpartnern auf diese Entwicklungen im Zeitalter des „Internet of everything“ offensiv reagieren. Viele Millionen Arbeitnehmer fühlen sich davon bedroht und fürchten, über kurz oder lang vom wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg abgekoppelt zu werden. It´s high noon – die Bundesregierung muss mit Höchstgeschwindigkeit an die Arbeit gehen.
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