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Home Politik

Der SPD-Vorsitzende zu unserem Anteil an Russlands Einmarsch in die Ukraine

Jochen Luhmann Von Jochen Luhmann
25. Juni 2022
Lars Klingbeil

Der gegenwärtige SPD-Vorsitzende hat am 21. Juni 2022 eine bemerkenswerte Grundsatzrede gehalten. Im Schwerpunkt ging es dabei um Deutschlands zukünftige Rolle in der Welt und um die Sicherheitspolitik Deutschlands und der EU im Besonderen.

Klingbeil ist jetzt 44 Jahre alt. Er gibt seine Stationen des Miterlebens von sicherheitspolitischen Schlüsselmomenten in sympathischer Weise so kund:

„Ich 11 Jahre alt war, fiel die Mauer in Berlin und der Kalte Krieg war vorbei. … Als ich mit 23 Jahren für ein Praktikum in New York war, habe ich die Anschläge 9/11 in dieser großartigen Stadt hautnah miterleben müssen. … Und jetzt: der 24. Februar 2022. … Heute bin ich 44 Jahre alt. Als Parteivorsitzender der SPD trage ich Verantwortung.“

Mit anderen Worten: Er und die Vertreter seiner Generation haben kaum eigene Erfahrungen mit Vorgängen, die sich in Dezennien abspielen. Der Leser fragt sich: Wie kann man dann einer geschichtlichen Verantwortung gerecht werden? Die Antwort ist einfach: Indem man sich der Geschichte vergewissert, durch Lektüre oder Erzählungen der Altvorderen.

Tut das Lars Klingbeil? Hat er die Geschichte des Kampfes um die Friedensordnung in Europa seit 1989, seit er 11 Jahre alt war, wenigstens ansatzweise so vor Augen, dass er mit Russlands Präsident Putin oder mit US-Präsident Biden darüber substantiell ein Gespräch führen könnte?

Diese Frage kann man testen, indem man sich einen Punkt aus seiner Rede herausgreift. Klingbeil ist so mutig, in seiner Rede die folgende Frage aufzuwerfen:

„Der russische Präsident Wladimir Putin hat diesen Krieg begonnen. … Wir sind nicht schuld an Putins Krieg, aber wir müssen uns selbstkritisch fragen, was wir vor dem 24. Februar hätten anders machen können.“

Die Antwort darauf ist nicht ganz genau formuliert. Wiederzugeben ist sie nur durch ein großflächiges Zitat, durch einen Ausschnitt, der durch Kürzungen zugespitzt ist. Es lautet:

„Der Westen hat sich zu sicher gefühlt, …. Ein Krieg zwischen Staaten in Europa schien unvorstellbar. Unsere Friedensordnung basierte viele Jahrzehnte auf dem Glauben an die Unverrückbarkeit von Grenzen, an staatliche Souveränität, alles gegossen in Verträge und internationales Recht.

Wir haben uns in dieser Welt bequem eingerichtet. Wenn es hier und da mal ruckelte, waren wir davon überzeugt, dass sich am Ende alles schon wieder einordnen würde. Weil wir daran geglaubt haben, dass sich am Ende unser politisches Modell durchsetzen würde. Dass sich die regelbasierte Ordnung durchsetzen würde.

Wir haben verkannt, dass sich Dinge längst anders entwickelten. Die Signale aus Russland hätten wir anders sehen müssen.“

Für mein historisches Bewusstsein ist das das Bekenntnis eines Schwarzen Loches im historischen Bewusstsein. Dass es in den gut 30 Jahren nach 1989 konkurrierende Subjekte gab, dass es zur Sicherheitsordnung in Europa konkurrierende Konzepte (incl. rechtlicher Regelungen) gab, NATO versus OSZE, dass der Gegensatz der zwischen „Sicherheit vor“ versus „gemeinsame Sicherheit“ war – alles das ist für den jetzigen SPD-Vorsitzenden im Nebel des Ungefähren verborgen. Subjekt des historischen Geschehens ist bei ihm vielmehr das „es“: ‚Die Dinge entwickelten sich längst anders.’

Auch im Konkreten bleibt Klingbeil die Antwort auf seine Frage schuldig: Wenn wir denn die Signale aus Russland anders gesehen hätten’ – ‚was hätten wir dann anders machen können und sollen? Hätten wir durch mehr Rüstung den Einmarsch Russlands verhindert? Will er das sagen? Er weicht der Feststellung aus, dass wir bei unserem Partner, den USA, hätten massiv vorstellig werden müssen, als Folgendes geschah – da hätte der Westen mit Russland verhandeln müssen. Und Europa, um deren Sicherheit es ging, hätte die fernen USA zum Jagen tragen müssen.

Die entscheidende Wende, die da „geschah“, hat Roland Czada von der Universität Osnabrück wie folgt skizziert:

„Im April 2021 begann die Verlegung russischer Truppen an die Grenze zur Ukraine. Anlass war das am 24. März 2021 unterzeichnete ukrainische Regierungsdekret Nr.117/2021 über die De-Okkupation und Rückeroberung der Krim und der Donbas-Region. Gleichzeitig waren 300 Tonnen amerikanischer Waffen an die Ukraine geliefert worden. Im Juni 2021 hatte die US-Administration eine weitere geplante Waffenlieferung im Umfang von 100 Mio. Dollar vorübergehend gestoppt, nachdem der russische Präsident ankündigte, seine Truppen zurückzuziehen. Die Truppen wurden teilweise abgezogen, die militärische Infrastruktur blieb jedoch bestehen. Im Oktober 2021 begann eine zweite Truppenkonzentration mit einer größeren Zahl von Soldaten. Die Überraschung war dennoch groß, als nach einer Serie von Vermittlungsversuchen, unter anderem des französischen Präsidenten Macron und von Bundeskanzler Scholz, die russischen Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfielen.“

Darin sind das Biden-Putin-Treffen am 7. Dezember 2021 und das Verhandlungsangebot Russlands zum Grundbegriff der Europäischen Sicherheitsordnung „gemeinsame Sicherheit“, welches am 17. Dezember 2021 an die USA und an die NATO gerichtet wurde, nicht einmal erwähnt. Nicht als mögliches Versäumnis erwähnt wird, Verhandlungen zum Kernbegriff der regelbasierten Ordnung ausgeschlagen zu haben. Was soll man von einem SPD-Vorsitzenden halten, der von all den verzweifelten Versuchen, das Schlimme kurz vor Toresschluss noch zu verhindern, nichts mitbekommen hat? Der in seiner Rede vielmehr sagt:

„Mitte Februar kamen mehr als 2.000 Sicherheitsexpertinnen und -experten auf der Münchner Sicherheitskonferenz zusammen. Nur die wenigsten sind davon ausgegangen, dass Putin die Ukraine angreift. Wenige Tage später hat Putin seinen Angriff gestartet. Mich beschäftigt bis heute, dass wir das alle nicht gesehen haben.“

Ja, das beunruhigt nicht nur ihn. In einem aber hat er sicherlich recht: „Ich finde, wir brauchen eine völlig andere sicherheitspolitische Debatte in Deutschland. Und auch neue und mehr Orte, an denen diese Debatte geführt wird.“


Bildquelle: flickr, Christian Hahn, CC BY-ND 2.0

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Tags: BidenEUKriegsursachenLars KlingbeilPutinRegierungsdekret Nr.117/2021RusslandSicherheitspolitikSPDUkraineUkraine-KriegUSA
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Comments 2

  1. Klär says:
    3 Jahren ago

    Eine leider zutreffende Analyse.

    Antworten
  2. Marianne Bäumler says:
    3 Jahren ago

    Guten Tag Jochen Luhmann,
    ich lese gerade von Jürgen Roth:
    „Die neuen Paten°, Heyne Verlag, sehr interessant, wie er historisch im Detail die Machtstrukturen um die Herren Trump, Putin, Erdogan, Orbán & Co.beschreibt.
    Interessant!
    So long Marianne Bäumler

    Antworten

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