Die Corona-Pandemie ist ein Härtetest für die Demokratie und Gewaltenteilung. Trotz schwieriger Bedingungen darf Wahlen auch in Krisenzeiten nicht der geringste Makel anhaften. Die Diskussion über die für den 13. September 2020 geplanten Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen schleppt sich dahin. Eine Entscheidung ist dringlich.
Die schwarz-gelbe Landesregierung wartet weiter ab. Das ist fahrlässig. Vor mehr als vier Wochen hatten Städte und Gemeinden nach Planungssicherheit gefragt. Für eine ordnungsgemäße Durchführung der Stimmabgabe sind umfangreiche Vorbereitungen zu treffen, bei der Aufstellung ihrer Kandidaten haben die Parteien Fristen zu wahren.
Personalentscheidungen sind online nicht erlaubt
Der 16. Juli ist der Stichtag zur Einreichung der Wahlvorschläge und Kandidatenlisten. Die werden von den Parteien in Wahlversammlungen aufgestellt, zu denen die stimmberechtigten Mitglieder persönlich kommen müssen. Virtuelle Veranstaltungen sind gesetzlich nicht zulässig, Videokonferenzen oder Online-Beschlüsse sind keine Alternative. Das Parteiengesetz ist da eindeutig.
In einigen Städten haben die Parteien schon über ihre Kandidaten entschieden, in vielen anderen Orten stehen die Abstimmungen noch aus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zunächst die von der schwarz-gelben Landesregierung erwirkte Veränderung der Wahlkreise zu regeln war. Dann kam Corona und mit dem Virus die Absage aller Parteiveranstaltungen. Noch bis zum 31. August bleiben nach jetzigem Stand größere Versammlungen verboten.
Wahlen ohne Wahlkampf
Ausgebremst worden sind auch zahlreiche Einzelbewerber, die in ihren Städten für das Bürgermeisteramt kandidieren und nun keine Chance auf einen klassischen Straßenwahlkampf haben. An Info-Stände auf den Wochenmärkten, Diskussionsabende oder Hausbesuche ist nicht zu denken.
Wahlen ohne Wahlkampf sind aus rein rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Diese Auffassung vertritt die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger vom PRuF (Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Nicht, wenn die Bedingungen für alle gleich sind“, sagt sie auf eine entsprechende Frage in einem Webinar zur Digitalisierung der Parteiarbeit.
Direkter Kontakt zum Bürger ist entscheidend
Isabelle Borucki aber, Politikwissenschaftlerin an der Universität Duisburg/ Essen, gibt über die rein rechtliche Bewertung hinaus zu bedenken, dass der direkte Kontakt zu den Menschen wahlentscheidend sei. Die Begegnung mit den Bürgern als Gleiche sei nicht zu ersetzen. Die Verlagerung des Wahlkampfs auf die Briefpost und in die sogenannten sozialen Medien dürfe kein dauerhafter gesellschaftlicher Zustand werden.
Noch bevor sich die Parteien Gedanken darüber machen, wie sie die Wähler informieren und von sich überzeugen können, sind die Formalitäten der Kandidatenaufstellung und Wahlprogramme zu erledigen. Alle Überlegungen, wie Zusammenkünfte bei Einhaltung von Abstandsgebot und Schutzmaßnahmen – in großen Hallen oder Fußballstadien – doch noch über die Bühne zu bringen wären, sind unzulänglich. Zumindest die besonders gefährdeten Corona-Risikogruppen und Verdachtsfälle blieben außen vor. In den großen Parteien liegt das Durchschnittsalter über 60. Eine Kollision mit den Statuten wäre unvermeidlich.
Besondere Komplikationen sind bei der ersten Direktwahl der Verbandsversammlung des Regionalverbands Ruhr zu erwarten, die erstmals zusammen mit den Kommunalwahlen stattfinden soll. Hier werden die Listen in zwei Schritten aufgestellt, zunächst dezentral Delegierte gewählt und dann die Kandidatenliste. Außerdem ist der 13. September auch als Wahltag für die Integrationsräte bzw. Integrationsausschüsse festgelegt, und in den Rathäusern haben die Mitarbeiter*innen gerade alle Hände voll zu tun, um die Corona-Lage zu bewältigen.
Corona-Folgen erschweren Verwaltungsarbeit
Die Durchführung von Wahlen stellt schon unter normalen Bedingungen einen enormen Kraftakt dar. Die Corona-Folgen dürften die Probleme zusätzlich verschärfen. Die Suche nach Wahlhelfer*innen wird erschwert, ebenso die Einrichtung von Wahlräumen beispielsweise in Schulen, Pflegeheimen, Kindergärten oder Gaststätten. Die Wählerverzeichnisse müssen aktualisiert werden, nachdem viele Meldeämter vorübergehend einen Notbetrieb gefahren haben.
Provisorien oder Notlösungen verbieten sich. Wahlen sind das Königsrecht der Demokratie. An den Grundsätzen des Wahlrechts – sie müssen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein – darf es keine Abstriche geben. Nun wird über Fristverschiebungen diskutiert. Mehr als ein paar Wochen sind damit nicht herauszuholen, wenn der 13. September Wahltag bleiben soll. Denkbar wäre bestenfalls die Rückkehr zu den alten Stichtagen, die erst mit der Änderung des Kommunalwahlgesetzes vor ziemlich genau einem Jahr vorgezogen wurden.
Mundschutzpflicht und Vermummungsverbot
Zugleich wurde der Wahltermin im September ermöglicht, der nach der bis dahin geltenden Rechtslage erst im Oktober hätte liegen können. Eine weitere Neuerung, die vor einem Jahr von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, ist das Vermummungsverbot. Wahlvorstände in den Wahllokalen dürfen ihr Gesicht nicht verhüllen. In Zeiten der Mundschutzpflicht bekommt diese Regelung nun eine ganz andere Bedeutung.
Die vertrackte Situation vor den Kommunalwahlen wird durch eine Besonderheit der laufenden Wahlperiode zusätzlich komplizierter. Um die Wahlen der Räte, Bezirksvertretungen und Kreistage wieder zeitgleich mit den Bürgermeister- und Landratswahlen stattfinden zu lassen, wurden die Ratsmitglieder ausnahmsweise nicht für die üblichen fünf, sondern für sechseinhalb Jahre gewählt. Das stellt bereits eine Einschränkung des Wahlrechts dar und belastet den Vorschlag einer kompletten Verschiebung der Wahl um ein Jahr oder ein halbes.
Rechtliche Bedenken gegen reine Briefwahlen
Bleibt die Frage, ob die Wahlen am 13. September als reine Briefwahlen durchgeführt werden können. Das Gesetz sieht das nicht vor. In einigen Fällen, bei der bayerischen Kommunalwahl oder auch der Landratswahl in Hameln ist unter Corona-Bedingungen das ausschließliche Wählen per Brief bereits praktiziert worden. Allerdings nur in den Stichwahlen, nachdem die jeweils ersten Runden als normale Urnenwahl erfolgt waren. Würde die Briefwahl aber von der Ausnahmeoption zum Standard erhoben, ergäben sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit.
Die äußert zum Beispiel Prof. Sophie Schönberger mit Blick auf die Wahlrechtsgrundsätze. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Briefwahl in mehreren Entscheidungen als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen. Dabei ging es aber nur um die Briefwahl als Ergänzung zur Urnenwahl, und aus der Begründung zum höchstrichterlichen Beschluss von 2013, mit dem Karlsruhe die Freigabe der Briefwahl bei der Europawahl billigte, ergeben sich gravierende Bedenken gegen eine reine Stimmabgabe per Post. (2 BvC 7/10)
Der Zweite Senat stellte fest, dass eine Teilnahme an der Wahl per Brief ohne Angabe von Gründen zulässig ist und wies eine Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Europawahl 2009 zurück. Der Gesetzgeber hatte im Jahr zuvor die Wahlgesetze, die von den Wählern mit dem Antrag auf Briefwahl eine Begründung gefordert hatten, entsprechend geändert.
Die Verfassungsrichter führen aus, dass in der Briefwahl „die öffentliche Kontrolle der Stimmabgabe zurückgenommen“ ist. Sie räumen gleichzeitig ein, dass „die Integrität der Wahl nicht gleichermaßen gewährleistet (ist) wie bei der Urnenwahl im Wahllokal“, und wägen dann ab: „Die Zulassung der Briefwahl dient aber dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt – jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl – eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen.“
Kommunen brauchen Planungssicherheit
Das Problematische an der Briefwahl, bei der die Stimmabgabe in der privaten Umgebung erfolgt und eine freie und geheime Entscheidung ohne Druck nicht sicher zu gewährleisten ist, wird hier ausdrücklich benannt. Aus Sicht der Richter sind die Nachteile zugunsten einer höheren Wahlbeteiligung hinnehmbar, allerdings solange, wie die Briefwahlbeteiligung einen nur geringen Anteil an den Wahlen insgesamt ausmacht. Das verfassungsrechtliche Leitbild ist die Urnenwahl.
Einen einfachen Ausweg wird es nicht geben. Klar ersichtlich ist nur, dass Abwarten und Hinhalten sich verbieten. Die Landesregierung muss Planungssicherheit schaffen. Mit ihrer Untätigkeit steuern CDU und FDP auf ein heilloses Chaos zu.
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'Corona-Dilemma der Kommunalwahlen – Mit Hinhalten handelt NRW-Regierung fahrlässig' hat 2 Kommentare
27. April 2020 @ 13:46 Olli
Danke für den ausführlichen Bericht, der auch mal die Seiten der Kommunen mit spiegelt. Außer acht wurde aber gelassen, dass Bewerber, oder Parteien, die Unterschriften für die Einreichung von Wahlunterlagen benötigen, diese in der jetzigen Lage kaum beschaffen können. Diese Personen/Parteien sind in meinen Augen stark benachteiligt.
Weiterhin gebe ich zu Bedenken, dass große Kommunen alleine bei der Briefwahl bis zu 2.400 Wahlhelfer in einem Briefwahlzentrum einsetzen. Alle Helfer sind dort, auch wenn man Mindestabstände einhält, 12 Stunden und länger in einem Raum/einer Halle untergebracht. In den Wahllokalen lassen sich auch kaum die Hygienevorschriften einhalten.Wie will man den Zugang der Lokale beschränken, wenn die Wahl öffentlich ist? Man darf keine Personen abweisen. Wie will man zur Corona Zeit die tausende an Wahlhelfern rekrutieren, die meist auch noch im problematischen Alter sind, d.h. sie zählen schon alleine deshalb zur sogenannten Risikogruppe. Wenn die Wahl am 13.09. stattfinden muss, dann kommt aus meinen Augen nur eine reine Briefwahl in Frage. Aber wir sind hier nicht in BAyern, sondern in NRW, wo man möglich viel wieder möglich machen möchte, koste es was es wolle.
28. April 2020 @ 10:05 Rainer
Diese Wahl kann nicht als Urnenwahl durchgeführt werden. Bei der Europawahl hatten wir 500 Wähler im Wahlbezirk. Am 13. September findet auch die Integrationsratswahlen statt, also 500 + X Wähler. Der Wahlraum hat aber nur einen Zugang. Wie bitte schön soll der Wahlvorstand den Zugang regeln?
Die Situation wird dadurch verschärft, weil in der Schule vier Wahlräume sind. Am Wahltag kommen, ungleichmäßig auf die 10 Stunden verteilt, also mindestens 2500 Wähler. Wie soll da der Mindestabstand eingehalten werden? Das gilt auch für die Stimmauszählung. In dem kleinen Wahlraum arbeiten dann 8 Personen auf engstem Raum an der Ermittlung des Wahlergebnisses.
Wie soll und kann der Wahlvorstand alle hygienischen Auflagen erfüllen? Und, etliche Wahlräume stehen nicht zur Verfügung, z.B. in Seniorenheimen. Und vierzehn Tage später sind die Stichwahlen, mit den gleichen Wahlvorständen – wieder tausende Personen in der Schule.
Wie soll und kann die Urnenwahl mit diesen Randbedingungen funktionieren? Das sollte doch mal die Landesregierung erklären.