Denk‘ ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht, würde der bekennende Anti-Nationalist und Anti-Monarchist Heinrich Heine möglicherweise heute dichten.
Allerorten ist (nicht nur) in Europa der Nationalismus wieder auferstanden. Und es nützt überhaupt nichts festzustellen, dass jene einem Heine intellektuell heillos unterlegen sind, die zwischen Heimweh und Chauvinismus nicht unterscheiden können.
Denn Heimweh hat er ja gehabt in seinem Pariser Exil; das Wintermärchen steckt voller Sehnsucht nach zu Hause und zugleich voll bissiger Wut über die spießigen und autoritären Verhältnisse.
Gar nicht so viele Jahrzehnte später warfen autoritäre Nationalisten Heines Bücher in die Flammen. Undeutsch sei das Schrifttum eines Mannes, der seine Heimatverbundenheit so treffend zum Ausdruck gebracht hatte. Zu seinen Lebzeiten hätten die Preußen Heine in Gefängnis gesteckt; die Nazis hätten ihn aus zwei Gründen ermordet: Weil er politische Freiheit forderte und weil er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Düsseldorfer haben peinlich viele Jahrzehnte nach der Befreiung 1945 gebraucht, um Heine etwas davon zu verzeihen.
Es gibt politische Texte, die Anfang unseres Jahrhunderts geschrieben wurden, weil Leute wie Wolfgang Thierse, Kurt Beck oder Sigmar Gabriel gespürt hatten, dass Heimat eine emotionale und zugleich politische Kategorie ist, die man nicht dem Missbrauch durch Nationalisten preisgeben dürfe. Womöglich hatte auch Norbert Lammert ähnliche Motive, als er sich in die Luftblase einer angeblichen deutschen Leitkultur und in deren Konsequenz, der grundgesetzlich normierten Pflicht, auf dem Boden der fdGo deutsch zu sprechen, verrannt hat. Heute kämpft die politisch-literarische Intellektuelle Thea Dorn in geradezu heinescher Manier darum, ein spezifisches Selbstverständnis von Beheimatung gegen antidemokratischen und nationalistischen Mißbrauch zu schützen.
Kampf um Heimat
Es könnte für diesen Kampf um Heimat, die demokratisch, tolerant, weltoffen, neugierig ist – in der jede*r weiß, dass andere ihre so sehr mögen, wie man selbst die seine – zu spät sein. Vielleicht kann man ihn in Deutschland sogar noch gewinnen; anderswo scheint ein Gefühl für Heimat, die in ein gemeinsames europäisches Haus eingebettet ist, nicht mehr zu überzeugen.
Ulrike Guérot, eine Kämpferin für ein gelingendes, demokratisches Europa hat die Lage in ihrer gleichnamigen Streitschrift als neuen europäischen Bürgerkrieg beschrieben. (Guérot, Ulrike: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Streitschrift. Berlin 2017) Das ist übertrieben, aber immerhin „erleben wir eine nicht gekannte verbale Aufrüstung“ der einschlägigen Rechtsnationalisten in Europa, egal, ob sie in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, England (!), Österreich, Ungarn, Polen, Slowakei, Deutschland oder Italien ihr teils längst regierungsamtliches Unwesen treiben. Aber überall in diesen EU-, oft auch Eurozonen-Mitgliedsstaaten gibt es doch andere, demokratische, europäisch denkende Kräfte. Deshalb handele es sich nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Mitgliedsstaaten sondern „eine politisch-ideologische Frontstellung, die längst paneuropäisch verläuft.“(Guérot)
Möglicherweise ist der Austritt Großbritanniens (weil das die Engländer wollen, müssen ja die Schotten und Nordiren mit) schlussendlich weniger folgenreich für die EU als Ganzes als die aggressiv anti-europäische Politik Ungarns, Polens und neuerdings Italiens, die sich eine zu nichts verpflichtende Freihandelszone vorstellen, der Länder ohne Rechtsstaat und Presssefreiheit ebenso angehören könnten, wie solche mit diesen elementaren Kulturleistungen.
Auf das Ärgernis entstehender paneuropäischer Bündnisse antieuropäischer Parteien zur bevorstehenden Europawahl und das noch größere Ärgernis der zur Zeit noch offenbaren Müdigkeit in den Medien und den pro-europäischen Parteien, sich damit zu befassen, kann hier nur hingewiesen werden. Und: natürlich spielt das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, die heute nur ein Schattendasein unter oftmals auch recht dunklen nationalstaatlichen politischen Öffentlichkeiten fristet – eine wichtige Rolle. Die Feinde des offenen Europa fühlen sich nicht zufällig eingeladen, gerade jetzt verbal aufzurüsten.
Nationalismus Paroli bieten
Das weitaus größere Ärgernis ist die langjährige Hilflosigkeit von Politik und Medien, dem Nationalismus Paroli zu bieten und einer gelegentlich gelingenden Ursachenforschung Taten folgen zu lassen. Ha! Medienvertreter werden natürlich sagen, das sei nicht ihre Aufgabe, sondern nur das Berichten. Gut. Aber warum heißen dann Nationalisten „Populisten“? Warum muss in einem ARD- Unterhaltungsfilm nachträglich ein antinationalistischer Aufkleber wegretuschiert werden, weil die Nationalisten, gegen die die Filmfigur sich wendet, zutreffenderweise den Namen „AfD“ tragen? Eigentlich – man wird es den Medien noch um die Ohren hauen – ist Populist ja gar nichts Schlimmes. Man braucht in der Demokratie durchaus Menschen, die sich populär verständlich ausdrücken können. Es gilt aber andererseits (und leider) gar nicht als ehrenrührig, Nationalist zu sein. Dann kann man doch auch in ARD und ZDF Nationalisten auch einfach wertneutral als Nationalisten bezeichnen. Das wäre mal ein Fortschritt an Klarheit.
Viele Politiker von schwarz, rot, grün und gelb müssten sich allerdings eingestehen, dass sie die Funktionsweise unserer parlamentarischen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr verständlich machen können. Sie müssten sich eingestehen, dass politische Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit beigetragen haben dazu, dass manch ein unverständliches Phänomen der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit überhaupt entstanden ist und kaum noch „rückholbar“ sein dürfte.
Beispiele findet man – gelobt sei es! – in den Medien. Da wäre der mittelständische Unternehmer, der brav seine beträchtlichen Steuern bezahlt und weiss, dass die größten Profitmaschinen der globalen Wirtschaft sich der Steuerpflicht weitgehend entziehen. Ein solcher Unternehmer hat vor laufender ZDF-Kamera auch erklärt, dass er wisse, dass das – wenn überhaupt – nur sehr schwierig und langwierig zu ändern sei. Das ändert aber nichts daran, dass diese Ungerechtigkeit ihm unerträglich ist. Trotzdem wird sie von Politikern eher erklärt, gerechtfertigt, ohnmächtig hingenommen statt verurteilt.
Oder das viel „größere“ Beispiel der Bankenrettung – der Verdacht erhärtet sich fast täglich, dass es sich nicht selten bei diesen Unternehmen um kriminelle Vereinigungen handelt: Die Summe, die zu deren Rettung aufgebracht wurden und die eine gewaltige Verschuldungskrise europäischer Staaten verursachten, stünde für sozialen Aufbruch, Infrastruktursanierung oder Bildungsinvestitionen nie und nimmer zu Verfügung!
Dass man Banken hilft…
Viele Menschen stören sich daran, dass man Banken hilft, obwohl man deren Praktiken aus gegebenen Anlässen misstraut. Menschen hingegen, denen individuell vergleichsweise winzige Sozialtransfers von Gesetz wegen zustehen, werden mit einem Misstrauen behandelt, dem in aller Regel seitens der konkreten Empfänger*innen keinerlei Anlass geboten wird. Ein Gegensatz in der staatlichen (!) Behandlung von „unten“ und „oben“, der größer kaum sein könnte und unübersehbar ist.
Das die Bahn – auch ohne Streik – nicht oder mit lauter kaputten Zügen fährt, ist ein Ärgernis, aber wieso schafft es ein Nicht-EU-Mitglied als offenbar einziges europäisches Land zwischen und auf seinen hohen Bergen eine perfekt pünktliche Bahn zu betreiben und die legendär organisationstalentierten Deutschen beispielsweise nicht? Ist die Ursache darin zu finden, dass die Schweiz die Bahn nicht privatisiert hat, wie es alle EU-Mitglieder mussten?
Hat es eine Grundverschiebung gegeben von allgemeiner menschlicher Verlässlichkeit und der Pflege öffentlicher Güter zu viel wichtiger genommener „Systemrelevanz“, zu profitorientiertem Finanzkapital, zu den Interessen habgieriger Spekulanten und globaler Großkonzerne? Und kann es sein, dass die naheliegende Vermutung, das sei nicht mehr rückholbar, auch ein Grund sein könnte, dass Protest dagegen sich nicht nach links sondern nach rechts ergießt oder in scheinbare Spontanaktionen wie bei den französischen Gelben Westen?
Ach ja: man konnte die gut belegte Warnung davor, dass sich die „Globalisierung“, also der Sieg der Reichen im Krieg gegen die Armen so auswirken werde, dass autoritäre Systeme die Demokratie ablösen, schon vor über 30 (!) Jahren bei Ralf Dahrendorf nachlesen. Man konnte die tatsächliche Entwicklung des Denkens nach rechts über Jahrzehnte an den stets veröffentlichten Forschungsergebnissen Wilhelm Heitmeyers nachlesen.
Das Unbehagen am Europa der Union hat also Ursachen. Korrekterweise muss eingeräumt werden, dass die EU in Brüssel und Straßburg gar nichts machen kann, ohne dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten dem zugestimmt oder in Gestalt beschlossener Regeln entsprechende Instrumente zu Verfügung gestellt hätten. Die europäischen Institutionen sind auch noch weiter entfernt vom Alltag der Bürger*innen, als die nationalen Regierungen, die sich ja alle den Vorwurf der Abgehobenheit anhören müssen. Damit sie sind noch besser geeignet als „Prügelknabe“ als die Letztgenannten.
Besen, Besen sei’s gewesen
Allen gemeinsam gilt der Vorwurf, dass der unbedingte EU-weite Vorrang des sogenannten Wettbewerbsrechts vor allen anderen Belangen der Besen ist, den die Zauberlehrlinge CDUSPDGRÜNEFDP wohl nicht mehr stilllegen können. Der Spruch „Besen, Besen, sei’s gewesen!“ kommt ihnen nicht einmal über die Lippen. Bei den hier nicht genannten Parteien würde nichts besser; wo sie und Ihresgleichen Macht haben, schrumpfen die Menschenrecht und die demokratischen Freiheiten. Das ist schon gar keine wünschenswerte Alternative, weder für Deutschland noch ein anderes Land.
Es ist inzwischen so, dass selbst wenn der Wohlstand wächst, der soziale Zusammenhalt gefährdet bleibt, weil die tatsächliche Ungleichheit unerträgliche Dimensionen angenommen hat. Die neoliberale Politk in der EU macht die Menschen heimatlos. Und das europapolitische Programm, dies – in Freiheit! – zu ändern hat noch niemand geschrieben.
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