„Alles was ich über Moral und Verpflichtungen weiß verdanke ich dem Fußball“, sagte einst der französische Schriftsteller Albert Camus. An dieser schlichten Erkenntnis muss sich das Verfahren zur Urwahl für den SPD Parteivorsitz messen lassen. Ist es fair?
Der Generalsekretär der SPD wird nicht müde, die Urwahl zum Parteivorsitz als ersten Schritt zur Erneuerung zu feiern. Er schrieb dem Autor: „Ich bin überzeugt, dass wir mit dem beschlossenen Verfahren den verschiedensten Bedenken gerecht werden und uns nun auf eine offene, transparente und spannende Abstimmung freuen können“.
Die Debatten-Camps sind schon nach der dritten Veranstaltung versandet, obwohl ein Bedürfnis nach glaubwürdigen Informationen besteht. Parteiveranstaltungen sind von oben herab (top down) nicht mehr zeitgemäß. Nicht ausreichend glaubwürdig. Wer sagt schon, dass durch die demografische Entwicklung das Renten- und Sozialsystem für die unter 34-Jährigen nicht mehr sicher ist. Dass es bei der Erhöhung des Verteidigungsetats ohne Bedarfsprüfung auf 2% Bruttosozialprodukt zu einem Zielkonflikt mit der Verpflichtung der Bundesregierung kommt, die Entwicklungshilfe auf 0,7% aufzustocken. Die Debatte darüber bleibt aus. Angesichts von Flucht und Migration ein Armutszeugnis. Wer Lösungen will, muss die Probleme zunächst im Zusammenhang diskutieren, um dann Prioritäten setzen zu können. In den Ortsvereinen und Kommunalparlamenten geschieht das noch, weil dort jede Entscheidung auf die Realität trifft. Die Einbindung der Ortsvereine ist deshalb von großem Vorteil.
Verfahren zur Urwahl
In dem Verfahren zur Urwahl beschließt der Parteivorstand das Gegenteil. Er nimmt den Ortsvereinen rechtswidrig das satzungsgemäße Vorschlagsrecht. Jetzt sollen fünf Unterbezirke, ein Bezirk oder Landesverband darüber entscheiden, wer die Zulassung für den Wettbewerb der Ideen und Konzepte erhält.
Die Ortsvereine von Dortmund-Aplerbeck oder Müsch in der Eifel könnten ja einen unerfahrenen Studenten, eine emeritierte Professorin oder einen lebenserfahrenen Pensionär vorschlagen. Eine unerfreuliche Vorstellung für die mittelalterlichen Berufsfunktionäre, die oft abgeschliffen, wie Kieselsteine im Bachbett wirken.
Der Versuch, über eine Mitgliederbefragung eine Doppelspitze durchzusetzen, widerspricht dem Organisationsstatut der Partei. Das Verfahren ist insgesamt unzulässig“, sagt Staats- und Verwaltungsrechtler Jörn Ipsen. Nach seiner Auffassung muss die SPD einen satzungsändernden Parteitag abhalten, bevor Kandidaten sich der Mitgliederbefragung stellen (Welt Online, 29.06.2019).
Autoritär und problematisch
Christoph Schönberger, Verwaltungsrechtler an der Universität Konstanz, hält schon die bestehende Regelung des SPD-Organisationsstatuts, wonach der alte Vorstand den neuen vorschlägt, für „autoritär und problematisch“. Mit ein bisschen Basisbeteiligung sei das kaum zu kaschieren.
Das „verkorkste Verfahren“ zeige die ganze Misere der SPD (Welt Online, 29.06.2019). Das Grundrecht auf Chancengerechtigkeit wird damit ausgehebelt. Die letzten Beschlüsse des SPDParteivorstandes mit einem 45-köpfigen Gremium, das wegen seiner Größe schon nicht arbeitsfähig ist: man beschließt ein Verfahren, das in der Ferienzeit vom 01.Juli bis 01. September nicht umzusetzen ist. Bestenfalls für einige Amts- und Berufsfunktionäre mit vorhandener Medienpräsenz und einem Apparat im Hintergrund. Ein begabter Ortsvereinsvorsitzender oder Stadtrat hätten keine Chance. Von jedem Vorsitzenden, ob es nun ein Fußballverein ist, wie Schalke 04 oder der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, wird Integrationskraft, operative und strategische Kompetenz verlangt.
Kenntnis des Milieus
So ein Amt erfordert auch einen Vollzeitvorsitzenden, wie er bei der SPD nicht vorgesehen ist. Dazu gehört auch eine sehr gute Kenntnis der regionalen Milieus und das der sozialen Schichten. Der Münchner Arzt tickt anders, als sein gleichaltriger Bauingenieur in Essen. An dem einen oder anderen Mangel sind 13 fleißige Vorsitzende gescheitert. Warum wird nicht gefragt? Die Benediktinermönche des Klosters Maria Laach in der Eifel sehen in den Ordensregeln vor, dass ein Kandidat für das Amt des Abtes drei Monate vor der Wahl in ein anderes Kloster gehen muss, so dass seine Kompetenzen diskutiert werden können. So lebensklug sind die Mönche. Wird kein wirklich freier unabhängiger Basiskandidat vorgeschlagen, bleibt es bei den Amts- und Mandatsträgern, die den Job des Vorsitzenden im Nebenberuf betreiben wollen. Wie die ehemalige gescheiterte Vorsitzende Andrea Nahles, sie war in Dreifachfunktionen aktiv: zusätzlich Fraktionsvorsitzende und Mitglied des Bundestages mit Wahlkreisbüros.
Der Vorstand beschloss außerdem eine Doppelspitze und keine Kriterien für das Amt des Parteivorsitzenden. Wenn sie schon von den „Grünen“ abkupfern, dann die bei denen seit längerem gut funktionierende Regelung der Trennung von Amt und Mandat. Tausende von jungen SPD-Mitgliedern könnten sich so in Parteifunktionen einarbeiten.
Talentiert sind sicher fast alle der zukünftigen Bewerber, aber ob sie geeignet sind zu führen, weiß niemand. Das Peter-Prinzip stellt fest, eine gute Lehrerin ist noch lange keine effiziente Schulleiterin.
Tanker im Treibsand
Der Tanker SPD sitzt im Treibsand fest, er kann weder vor noch zurück. In dieser Situation wirkt ein bisschen Basis-Beteiligung wie Strohfeuer. Die Urwahl hängt dann auch noch von der Tagesform der Kandidaten ab und wird damit zum Lotteriespiel. In der SPD gibt es vor allem unter den jüngeren Mitgliedern eine weit verbreitete Sehnsucht nach Offenheit und Dialogbereitschaft sie wollen nicht nur Plakate kleben, Flyer und rote Nelken verteilen. Haben noch Ortsvereine den Mut, ihr verbrieftes Recht auf Mitbestimmung einzufordern? Das Schicksal der Partei wird davon abhängen, jetzt nein zu sagen. Anpassung wäre Selbstzerstörung.
Peter Grafe lässt in seinem Buch „Tradition und Konfusion SPD“ den Intellektuellen Peter Glotz zu Wort kommen: “ Die Wahrnehmungsbegrenzung auf die Zusammenhänge, in denen einzelne Gruppierungen innerhalb der SPD sich jeweils bewegen, kann zu einem nahezu autistischen Weltbild gerinnen“. Hoffen wir, dass der leider viel zu früh verstorbene Professor Unrecht behält.
P. s. Der Autor des Berichts, Hans Wallow, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD, hat dem Generalsekretär der Partei Lars Klingbeil seine Bereitschaft zur Kandidatur und zur Mitwirkung bei der Erneuerung der SPD mitgeteilt.
Bildquelle: Pixabay, Bild von PublicDomainPictures, Pixabay License